Michel Petrossian
L’ange Dardaїl
für Violoncello
Michel Petrossian – er ist als Komponist in Deutschland noch nicht recht bekannt geworden – wurde 1973 in Eriwan geboren. Studiert hat er neben Cello und Gitarre auch Komposition u. a. in Paris am Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse. Daneben hat er intensive altphilologische Interessen, studierte ein Dutzend Sprachen und bereiste Länder mit altehrwürdigen Kulturen wie u. a. den Iran, Äthiopien, Israel, Usbekistan, Jordanien, Armenien oder Georgien. In seiner Musik schlagen sich diese Aktivitäten unmittelbar nieder: sowohl in ihrer musikalisch-stilistischen Faktur, welche Einflüsse außereuropäischer Länder aufweist, als auch in ihren durch Werktitel ausgedrückten Sujets, die oft rätselhaft bleiben und ihrerseits aufklärender Kommentare bedürfen.
L’ange Dardaїl (Der Engel Dardaїl) von 2021 ist ein konzises, durchaus dankbares Vortragsstück für Cello solo mit 93 kurzweiligen, spieltechnisch nicht allzu kniffligen Takten, das gut zu überschauen ist und einen eigenen Tonfall besitzt. Petrossian gestaltet es mit zwei unterschiedlichen Konfigurationen des musikalischen Materials: mit ausgezierten melodischen Fragmenten (er nutzt auch Mikrointervalle) und mit in schnellen Arpeggien auszuspielenden, eher harmonisch fundierten Teilen. Diese beiden Materialien wechseln sich in einer Art ab, die mit Variantenfolgen zu vergleichen ist. Zu den Mitteln, mit welchen Petrossian diese Varianten ausgestaltet, zählt insbesondere die sehr differenzierte Dynamik und die planvoll ins Spiel gebrachte, vielfach schattierte Tonartikulation. Auf „avantgardistische“ Verfremdungen (Klopfen auf dem Instrument, Schlagen mit dem Bogen, knirschendes Aufdrücken des Bogens auf die Saiten, Spielen hinter dem Steg usw.) verzichtet Petrossian; er schreibt auch kein Pizzicato und kaum vollgriffiges Akkordspiel vor. Notiert ist das Stück gänzlich traditionell, sodass auch keine neuen spieltechnischen Zeichen zu erlernen sind.
Der rätselhafte Werktitel L’ange Dardaїl nimmt Bezug auf den in etlichen Religionen bekannten Engel, der auf der Erde reist und solche Versammlungen von Menschen aufsucht, die an den Namen Gottes erinnern. Im Yezidentum etwa zählt er zu den sieben Erzengeln und ist verantwortlich für das, was im Buch des Lebens eingetragen wird. Dieses Sujet wird sich in unserem Kulturkreis jedoch kaum mehr direkt mitteilen können. Es verweist hier wohl eher auf ein inneres Gestimmtsein, auf einen möglichst individuellen Gestus – eine Ausdrucksbezeichnung gibt Petrossian der Musik charakteristischerweise nicht vor, sondern notiert nur Metronomzahlen –, aus dem heraus man das Stück zu erleben und darzubieten hat.
Der Druck in der Edition Gravis ist makellos und lässt keine Wünsche offen.
Giselher Schubert