Ravel, Maurice

La Valse

Poème choréographique pour orchestre, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2008
erschienen in: das Orchester 09/2008 , Seite 65

La Valse und Bolero: zweimal gesittete Tanzformen mit ekstatischer Überhitzung, in der etwas vom Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts musikalisch sinnfällig wird. Die beiden Ballettmusiken von Maurice Ravel sind Dauerbrenner und Preziosen im Orchesterrepertoire, ein nochmaliger prüfender Blick auf ihr Aufführungsmaterial ist darum fraglos sinnvoll. Der Dirigent Jean-François Monnard hat ihn getan und nun in der Partitur-Bibliothek bei Breitkopf kritische Neuausgaben (samt Orchesterstimmen zum Kauf) vorgelegt.
Die Quellenlage und die aus ihr folgenden editorischen Grundsatzentscheidungen sind in den beiden Fällen sehr ähnlich. Als Hauptquelle wählt Monnard jeweils den Partitur-Erstdruck von Durand, auf dem auch bisher bereits alle Aufführungen basierten; einen sensationell veränderten Bolero sollte daher niemand erwarten. Gleichwohl sind die Ausgaben alles andere als überflüssig, denn der Herausgeber verzeichnet zahlreiche Differenzen zu Ravels Reinschriften und Partiturentwürfen und korrigiert Details der Durand-Versionen. Meist geht es um offenkundige Irrtümer. Ob auch diese oder jene vermeintliche „Unstimmigkeit“ tatsächlich korrekturbedürftig war, könnte diskutiert werden.
Wichtiger scheint, dass Monnard solche unsicheren Stellen überhaupt freigelegt hat, zumal sich alle Korrekturen über die akribischen, doch benutzerfreundlichen Revisionsberichte leicht erschließen und rückgängig machen lassen. Hier und in den Vorworten finden sich aufschlussreiche werkgenetische Hinweise, etwa darauf, dass von Ravel drei verschiedene Metronomisierungen des Bolero überliefert sind. Mindestens ebenso wertvoll sind die Informationen zur Aufführungs- und Tonträgergeschichte der beiden Werke, gerade aus den frühen Jahren. So wird erstmals eine Retusche des klanglich heiklen Anfangs von La Valse dokumentiert, die auf Ravels Umfeld, nämlich auf den Dirigenten Manuel Rosenthal zurückgeht. Alles in allem bewährt sich das Konzept von Breitkopf-Urtext an diesen Stücken.
Dass eines Tages weitere, wichtige Quellen publik werden, ist im Fall des Bolero nicht ausgeschlossen; bei La Valse ist es absehbar, da man (unter anderem) um das Vorhandensein von Druckfahnen weiß, die Monnard nicht zugänglich waren. Dies könnte zu veränderten Antworten auf gewisse editorische Fragen führen. Gegenwärtig aber dürften Monnards Ausgaben unter praktisch-textkritischem Aspekt schwerlich zu überbieten sein. Ihr Druckbild ist allerdings wenig mehr als ordentlich; die Lebendigkeit und Übersichtlichkeit des alten Durand-Stichs erreichen sie nicht.
Thomas Gerlich