Dutilleux, Henri
Larbre des songes
Concerto pour violon et orchestre (1983/85), Studienpartitur
Henri Dutilleux (geb. 1916) gab seinem Violinkonzert, das zu den erfolgreichsten neueren Konzerten schlechthin zählt, bereits fest im Repertoire einiger der besten Geiger etabliert ist und in mehreren Einspielungen auf Tonträgern vorliegt, den seltsam-rätselhaften Titel Larbre des songes (wörtlich: Der Baum der Träume). Das ist eine Metapher, die recht genau den gleichsam vegetativen Habitus und die weit verzweigte kompositionstechnische Faktur des Werks benennt, wie sie gleich mit den ersten Takten durch die Solovioline ins Werk gesetzt werden: Dutilleux wiederholt die erste Phrase rückläufig, und auf solche Weise spinnt sich die Musik gewissermaßen wie von selbst fort. So frei, ungezwungen und voller Überraschungen sich der musikalische Verlauf auch gibt, so beziehungsreich entwickelt er sich fort.
Dabei wirkt das einsätzig durchkomponierte Werk mit seinen sieben Abschnitten (vier Hauptteile, zwischen denen drei Interludien vermitteln) durchaus wie eine sinfonische Dichtung mit der Solovioline als Protagonistin, die das außerordentlich reiche, auch abwechslungsreiche, fantasievolle musikalische Geschehen anführt, ohne es in jedem Moment zu dominieren. Entsprechend kommt es auch zu ungemein reizvollen solistisch-orchestralen Wechselwirkungen wie etwa zum Duett von Sologeige und Oboe damore im dritten Hauptteil Lent, in welchem sich die Oboe der Sologeige wie ein Schatten anschmiegt und ihr folgt. Dutilleux verliert bei aller Modernität auch niemals das Idiomatische der geigerischen Spielweise aus dem Blick. Das geht sogar so weit, dass er im dritten Interludium in einer leicht aleatorisch gestalteten Passage auch noch das Stimmen der Sologeige gewissermaßen auskomponiert. Wie nur wenigen zeitgenössischen Komponisten gelingt es Dutilleux, die musikalische Fortschrittlichkeit zugleich als eine Erneuerung von Tradition auszuweisen.
Der große Erfolg dieses kompositionstechnisch-stilistisch aus dem Vollen schöpfenden, gewissermaßen inklusiv gestalteten Werks ist also wohlbegründet, und umso dankbarer muss man dem Schott-Verlag sein, dass er nun eine Taschenpartitur mit einer Einleitung von Dutilleux publiziert hat, die mit hervorragender Typografie alle Wünsche erfüllt. (Das Faksimile einer Notenseite aus der Originalpartitur findet sich übrigens bei Pierrette Mari: Henri Dutilleux, Paris 1988, S. 174.) Sie ermöglicht vor allem auch das Studium der schlechterdings brillanten Instrumentierung, die sich auf eine relativ konventionelle Orchesterbesetzung stützt und fast nur durch einen reichen Schlagzeugpart (mit Vibrafon), durch Zimbal und durch Klavier erweitert ist. Freilich erfordert die häufige homorhythmische Führung der Instrumente und sogar Instrumentengruppen größtmögliche Präzision des Orchesterspiels.
Giselher Schubert