Stephen Hinton
Kurt Weills Musiktheater
Vom Songspiel zur American Opera
Über zehn Jahre dauerte es bis zur Veröffentlichung von Veit Friemerts jargonkundiger Übersetzung der imposanten Monografie Kurt Weills Musiktheater. Vom Songspiel zur American Opera. Endlich! Handelt es sich doch um das Panorama eines der wichtigsten Musiktheater-Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Das nun übersetzte und aktualisierte Original, Weill’s Musical Theater: Stages of Reform bei UC Press, erhielt 2013 den von der Kurt Weill Foundation for Music verliehenen Kurt Weill Price für außerordentliche Forschungsarbeit im Musiktheater. Der britisch-amerikanische Musikwissenschaftler Stephen Hinton (geb. 1955) beschäftigt sich seit Ende der 1980er Jahre intensiv mit Weill und Musikphänomen wie der „Idee der Gebrauchsmusik“. Für die Kurt Weill Edition erstellte er kritische Ausgaben von Die Dreigroschenoper und Happy End sowie die mit dem deutschen Weill-Experten Jürgen Schebera in zwei Editionen herausgebrachten Gesammelten Schriften (1990 und 2000).
Außer den Uraufführungen interessiert Hinton sich kaum für die deutsche, amerikanische und internationale Bühnenrezeption der von Kurt Weill (1900 bis 1950) zwischen den Betriebs- und Gattungsformen konzipierten Stücke. Dabei wäre insbesondere für das deutsche Publikum ein Blick auf Weills Schaffen aus amerikanischer Perspektive spannend. Denn dessen Aufführungshäufigkeit kam nach dem Zweiten Weltkrieg durch den „Avantgarde-Stoß“ in Westdeutschland etwas ins Stocken. Die Dreigroschenoper wurde lange vor allem als Nostalgie-Stück aus den 1920ern zum Spielplan-Evergreen und nicht aufgrund ihrer Sozialkritik. Erst nach 1980 avancierte Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny zum zweiten beliebten Repertoirestück Weills.
Hinton beschreibt Weills Neigung für die Bühnenform „Singspiel“ unter Berücksichtigung der Idealisierung von Mozarts Zauberflöte durch den Musiksoziologen Theodor W. Adorno, erwähnt aber nicht Weills ironische Brechung des Begriffs bei Operetten-Singspielen wie Das Dreimäderlhaus und Die große Sünderin. Im Hauptteil stellt Hinton die Bühnenwerke Weills in chronologischer Reihenfolge ihres Entstehens vor, von Weills und Georg Kaisers Einaktoper Der Protagonist (Dresden 1926) über die Blockbuster der späten Weimarer Republik, die im Pariser Exil entstandenen Stücke und die Reihe der amerikanischen Musicals, Opern, Singspiele oder Filme, bis hin zu Lost in the Stars. Er fokussiert in den einzelnen Darstellungen mit jeweils verschiedener Gewichtung biografische Situationen, Gattungsdiskurse, zeitgeschichtliche Einordnung und Weills künstlerische Partnerschaften.
Dieses Buch macht Lust auch auf den weniger bekannten Weill – auch wenn sogar Hinton eine gültige Antwort schuldig bleibt auf die Frage, wie sich Weill und Bertolt Brecht kennenlernten.
Roland Dippel