Sibelius, Jean
Kullervo
Symphonic Poem for Soloists, Chorus & Orchestra op. 7
Obwohl Sibelius nicht der erste Komponist war, der sich mit dem finnischen Nationalepos Kalevala beschäftigte, so ist er doch mit einigem Abstand derjenige Komponist, der sich am stärksten durch die archaischen Runen anregen ließ. Erstmals schlägt sich dies nieder in der weit über einstündigen Kullervo-Partitur einem Werk, das irgendwo zwischen (szenischer) Kantate und sinfonischer Dichtung anzusiedeln ist, bei dem aber Sibelius nachdrücklich darauf bestand, dass es sich um eine Sinfonie (nicht Suite) handelt. Das muss überraschen, bedenkt man die fünfsätzige Disposition, den literarischen Vorwurf und die Einbeziehung von Chor und Solisten. Jedoch macht die von ihm in Anschlag gebrachte Gattungsbezeichnung, die übrigens auf dem Manuskript eigenartigerweise fehlt, klar, wo Sibelius die Komposition musikhistorisch verortet wissen wollte nämlich in der Nachfolge von Beethovens 9. Sinfonie und den von ihr ausgehenden Werken.
Sibelius, der mit Schwedisch als Muttersprache aufwuchs, verdankt das Interesse an der Kalevala vor allem seiner Verlobten Aino Järnefeld, die der nationalen Idee eng verbundenen war (Finnland war noch Ende des 19. Jahrhunderts als Großfürstentum Teil des russischen Zarenreichs). Im Herbst 1890 einer Zeit, in der er in Wien bei dem Brahms-Anhänger Robert Fuchs seine handwerklichen Fähigkeiten vervollkommnete berichtete er ihr: Es ist gut, dass Sie die finnische Sprache und finnische Dinge lieben. Ich kann Sie so gut verstehen [
] Ich lese sorgfältig in meinem Kalevala, und fühle, dass ich Finnisch schon viel besser verstehe. [
] Das Kalevala scheint mir ein sehr modernes Werk zu sein. Es liest sich wie reinste Musik, wie ein Thema mit Variationen.
Geradezu prophetisch für das weitere uvre und dessen Rezeption liest sich dann die erste Ankündigung von Kullervo am 15. April 1891: Ich arbeite jetzt an einer neuen Symphonie, ganz im finnischen Geist. Warum Sibelius nach insgesamt sechs (erfolgreichen) Aufführungen das Werk dann in der Schublade verschwinden ließ, ist bis heute nicht ganz geklärt. Denn bereits hier findet sich jener charakteristische Tonfall, der fortan das weitere Schaffen bestimmen sollte. Zudem spricht aus der Partitur eine ungemein frische, ungebändigte rhythmische Kraft, wie auch eine reiche Klangfantasie (ganz abgesehen vom sicheren dramatischen Gespür) Eigenschaften, die auch die Einspielung der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter ihrem Chefdirigenten Ari Rasilainen auszeichnen. Dies betrifft auch die durchsichtige Aufstellung des Klangkörpers, mit der auch so manches Risiko eingegangen wurde. Sicher ist aber vor allem, dass sich die Produktion auch angesichts der inzwischen in erstaunlicher Zahl vorliegenden Vergleichseinspielungen einen sicheren Platz im CD-Regal erobern wird. Pluspunkt: der vollständig und in Übersetzungen abgedruckte Gesangstext.
Michael Kube