Michael Schmidt (Hg.)

Künstliche Intelligenz der Töne

Ethik und Ästhetik digitaler Musikkultur

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: edition text + kritik, München
erschienen in: das Orchester 12/2025 , Seite 66

An Künstlicher Intelligenz wird schon lange gearbeitet. Einen geradezu revolutionären Durchbruch ­bedeutete die lernfähige Spielemaschine AlphaGo (2016), gegen die selbst die besten Go-Spieler der Welt keine Chance mehr hatten. Aus Spiel wurde Ernst: schleichend und ohne dass die Öffentlichkeit sich dessen so recht bewusst war.
Seitdem wuchs die Informationsmaschine ChatGPT explosionsartig: ChatGPT 1 (2017) basierte auf 115 Millionen Parameter, ChatGPT 2 (2019) auf 1,5 Milliarden, ChatGPT 3 (2020) auf 175 Milliarden und ChatGPT 4 (2023) auf 1,76 Billionen. Heute, zehn Jahre später und in Zeiten von ChatGPT 5 (2025), wird unser Leben in großen Teilen von Algorithmen geleitet. In vielen Bereichen ist KI zu einem unverzichtbaren Werkzeug geworden und wird mit großer Selbstverständlichkeit genutzt.
Spätestens mit dem Erscheinen von ChatGPT 4 im Jahr 2024 ist das Thema KI geradezu schlagartig in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht über die Möglichkeiten, Nutzen, Risiken, ja Gefahren sowie über das wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungspotenzial diskutiert und spekuliert wird. Hoffnungen, Ängste, Erwartungen, Befürchtungen, Skepsis oder nüchterner Pragmatismus verbinden sich mit dieser Technologie, die aufs Neue die geradezu archetypische Konstellation von Mensch und Maschine neu thematisiert.
In der Regel dominieren wirtschaftliche Aspekte die Diskussion um die KI, für deren Weiterentwicklung finanziell-wirtschaftliche Überlegungen auch die zentralen Treiber sind. Dies gilt zweifellos auch für digitale, KI-gestützte Musiksysteme. Doch entzünden sich auf diesem Gebiet, sobald künstlerische Aspekte ins Spiel kommen, auch existenzielle, ethische und ästhetische Fragen, die unvermeidlich etwas in den Mittelpunkt rücken, was gemeinhin als spezifisch menschlich gilt: die menschlich-individuelle Kreativität. Am Beispiel der Musik (und natürlich auch der Kunst) provoziert die Diskussion um die Künstliche Intelligenz angesichts der gelegentlichen Befürchtung, die Maschine könne den Menschen auch hier ersetzen, unweigerlich eine Schärfung der jeweiligen Spezifik von menschlicher und künstlicher Intelligenz und nötigt damit zu einer Selbstvergewisserung des Humanen.
Die vorliegende Publikation erscheint daher genau im richtigen Moment. Sie bereichert die KI-Diskussion aus musikkultureller Sicht wesentlich, indem sie die damit verbundenen und oben schon angeschnittenen thematischen Dimensionen aspektereich auffächert und entscheidende Akzente setzt. Sie ist vor allem für diejenigen musikinteressierten Leser:innen und Musiker:innen geeignet, die mit dem Phänomen KI und Musik Fühlung aufnehmen oder ihr bereits bestehendes Vorwissen um neue Kontexte bereichern wollen. Das Buch enthält neun verständlich geschriebene, flüssig lesbare, erfreulich übersichtliche und vor allen instruktive Beiträge, die zur Selbst- und Weiterbeschäftigung mit dem Thema anregen.
Frizz Lauterbach entfaltet vor dem Hintergrund, dass die KI menschengemacht ist, die Unterschiede zwischen Humaner und Künstlicher Intelligenz und plädiert dafür, KI-Modelle in die menschlichen Verstehensprozesse zu integrieren; Ludger Brümmer erläutert die Funktionsprinzipien von KI-Systemen und wendet sich dann dem Thema Kreativität von KI-Systemen zu, um schließlich die neuen Dimensionen einer KI-gestützten Musikpraxis aufzufächern sowie damit verbundene Möglichkeiten kreativer Gestaltung auszuloten; der Jurist Thilo Klawann bringt Struktur in das Dickicht der mit KI verbundenen urheberrechtlichen Komplikationen; in Ali Nikrangs Beitrag geht es um das Thema der KI-gestützten Musikkomposition, die er im zweiten Teil seines Beitrags an dem vom ihm mitentwickelten Kompositionssystem „Ricercar“ veranschaulicht. Matthias Röder plädiert dafür, KI pragmatisch als Werkzeug zu begreifen. Er geht dem Gedanken nach, dass es sich bei der Zusammenarbeit von Komponist und KI-System um eine Form von Kokreation handelt, eine Arbeitsweise, die (nicht nur) in der Musikgeschichte eine lange Tradition hat. Michael Schmidt stellt einige für die Musikproduktion konzipierte KI-Systeme vor und reflektiert verschiedene Nutzungsmöglichkeiten. Wolfgang Rüdiger nähert sich dem Thema aus phänomenologisch-anthropologischer Sicht. Im Zentrum seines Beitrags stehen die Unterschiede zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Michaela Fridrich stellt die Möglichkeiten der Verwendung von digitalen bzw. KI-gestützten Medien in pädagogisch-musikvermittelnden sowie musikpraktischen Kontexten dar. Dorte Lena Eilers schließlich beschreibt die anfängliche Ratlosigkeit des Kulturjournalismus bei der beurteilenden Einordnung von KI-erzeugten Kunstprodukten. Für sie ist ein wichtiges Wertkriterium der ästhetische Mehrwert und der Grad der Bereicherung, den die Verwendung von KI jeweils erzeugt.
Zum Schluss ein Gedanke, der aber den durchweg sehr erfreulichen Eindruck des Buches nicht trüben soll: Wie schön wäre doch ein bündiger Anhang (nicht mehr als drei Seiten) mit einem kleinen KI-Glossar und einigen Literaturempfehlungen für die weiterführende Lektüre gewesen.
Andreas Eichhorn

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support