Werke von Haydn, Schubert, Mendelssohn, Bartók u. a.

Krise/Crisis

Kuss Quartet

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Rubicon
erschienen in: das Orchester 7-8/2023 , Seite 73

Unser Konzertleben ist so stark von der Idee des sogenannten „Werkes“ und dessen Unversehrtheit dominiert, dass aufführungspraktische Erwägungen früherer Zeiten, die dazu führten, oftmals nur ausgewählte Einzelsätze von Kompositionen innerhalb von Konzerten erklingen zu lassen, zutiefst verpönt sind. Sich der Möglichkeiten zu bedienen, aus Fragmenten eine übergeordnete Einheit zu schaffen, die im Sinn eines „komponierten Programms“ aus der Kombination von Altem und neu Entstandenem einen Kommentar zu Phänomenen der Jetztzeit bildet, war in den vergangenen Jahrzehnten eher eine Ausnahme. Die vorliegende Produktion des Kuss Quartets ist daher umso spannender, weil sie zeigt, wie wirkungsmächtig ein Konzept sein kann, wenn es gründlich durchdacht ist und gesellschaftliche Relevanz für sich beansprucht: Thematisch geprägt durch die Implikationen des Stichworts „Krise“, entfaltet sich über 84 Minuten hinweg ein vielschichtiges, auf höchstem interpretatorischen Niveau dargebotenes musikalisches Gewebe, hinter dem ein künstlerisch artikuliertes Stimmungsbild gegenwärtiger Befindlichkeiten erkennbar wird.
Vieles funktioniert hierbei assoziativ (etwa in Bezug auf Sätze von Joseph Haydn oder Franz Schubert), indem die Musik mit bestimmten emotionalen Gehalten gleichgesetzt wird; anderes resultiert (so z. B. im Falle von Bedřich Smetana oder Steve Reich) aus dem Wissen über die Hintergründe der Entstehung einzelner Werke. Teils mag man mit den Entscheidungen des Ensembles übereinstimmen, teils mag man sie möglicherweise als fragwürdig bewerten; doch nur in der Gesamtheit aller Einzelteile erschließt sich der facettenreiche Umriss einer Befindlichkeit, der über die Konnotationen von Trauer und Tragik hinweg auf unterschiedliche Momente von Krise verweist.
Geradezu exemplarisch bricht sich diese Mannigfaltigkeit in den „dramaturgisch dichten und fast körperlich bedrängenden Klängen“ (Oliver Wille) von Leoš Janáčeks erstem Streichquartett Bahn, was die Ensemblemitglieder dazu bewogen hat, dieses „Hauptwerk des persönlichen Ausdrucks von Krise“ als Ausnahme zu behandeln und – als einzigartigen Kristallisationspunkt ihres Konzepts – vollständig einzuspielen. Gebunden an spezifische musikalische Strukturen oder kompositorische Verfahrensweisen tritt die Auseinandersetzung mit Krisenhaftem aber auch in den drei eigens vom Kuss Quartet in Auftrag gegebenen Kompositionen von Birke Bertelsmeier (*1981), Francesco Ciurlo (*1987) und Óscar Escudero (*1992) auf jeweils individuelle Weise in den Vordergrund. Gerade diese Beispiele machen daher deutlich, wie der Modus der Krise zum Impuls aktuellen Musikschaffens umgedeutet wird und welche unterschiedlichen Gebilde und Ausdrucksformen daraus resultieren können.
Stefan Drees

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