Saint-Saëns / Chopin / d’Albert / Tschaikowsky

Konzerte

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hastedt HT 6606
erschienen in: das Orchester 05/2012 , Seite 76

Mit dem Cello durch die Wand. Ungestüm, brodelnd, waghalsig. Hatte Jacqueline du Pré eine deutsche Schwester? Es hört sich fast danach an. Anja Thauer heißt die junge Cellistin und Hoelscher-Schülerin, die in den 1960ern und frühen 1970ern der aufstrebende Stern am europäischen Cellohimmel war. Zwei Neuveröffentlichungen des Labels Hastedt sorgen mit dieser Wiederentdeckung derzeit für Aufregung und Entzücken. Thauer spielt darauf all die virtuosen romantischen Konzerte und Sonaten für weinendes Cello, die diesem hitzigen Gemüt entsprechen – auf einer der CDs sind das Saint-Saëns’ a-Moll-Konzert, d’Alberts Konzert op. 20 in C-Dur, Tschaikowskys Variationen über ein Rokoko-Thema und Chopins Sonate für Klavier und Cello.
Hastedt schöpft aus Einspielungen Thauers mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart von 1966 bis 1973 unter drei verschiedenen Dirigenten (Hans Müller-Kray, Räto Tschupp und Christoph Stepp). Trotz der Zeitspanne und unterschiedlicher Interpreten präsentiert sich die CD einheitlich, fast wie eine Konzeptproduktion. Beweglich folgt das RSO Thauers Melodieflüssen, setzt ihnen einen Rahmen. Einzig die matte Klangqualität, vor allem im d’Albert-Konzert, trübt diese wunderbare Veröffentlichung. Der etwas gedämpfte Ton ist wohl dem Alter der Aufnahme geschuldet und lässt Thauers Klang noch dunkler wirken.
In dieser Dunkelheit liegt ein kleiner Unterschied zu du Pré. Thauer strahlt weniger, auch ihr Diskant hat etwas Düsteres. Stets ist ihr Spiel durchtränkt von intensivem Sehnen, romantischem Sich-Verzehren. Ihr Vibrato im d’Albert wirkt wie ein auskomponiertes Zittern. Thauer scheut sich auch nicht davor, „dreckig“ zu spielen. Schmachtende Glissandi stehen neben zu schnell geschmissenen Bögen. Die ohnehin schon ausdrucksstarken Stücke werden mit ihrem feurigen Ton ausufernd. Weiche Übergänge sind nicht Thauers Stil, freie Dynamik und Sforzati zerrupfen buchstäblich die Werke. Wen überrascht es da, dass die Wiederholung der Exposition in der Chopin-Sonate übersprungen wird? Bei der Einspielung dieser Sonate waren die befreundete Pianistin Claude Françaix und Anja Thauer gerade mal 18 Jahre alt. Das expressive Spiel der beiden kommt der spontanen Poesie und dem lose zusammenhängenden Charakter der Sonate sehr zu Gute und macht sie zur gewagtesten Interpretation auf der CD.
Anja Thauer scheint tatsächlich eine aufregende Wiederentdeckung zu sein. Vielleicht finden sich ja nach den beiden Hastedt-Veröffentlichungen auch in anderen Musikarchiven vergessene Aufnahmen der jungen Solistin. Neben ihrem romantischen Ton ist auch ihre persönliche Geschichte bewegend. Dass auch Thauer jung starb, rückt sie noch stärker in die Nähe du Prés. „Ein unentwirrbar erscheinendes Beziehungsgeflecht“, so steht im Booklet, war der Grund dafür, dass Thauer sich mit 28 Jahren das Leben nahm.
Vera Salm