Unsuk Chin
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1/Le silence des Sirènes/Chorós Chorón/Rocaná u. a.
Christian Tetzlaff (Violine), Alban Gerhardt (Violoncello), Sunwook Kim (Klavier), Berliner Philharmoniker, Ltg. Simon Rattle, Myung-Whun Chung, Sakari Oramo, Daniel Harding
Nach diversen Veröffentlichungen zum gängigen Konzertrepertoire haben die Berliner Philharmoniker auf ihrem orchestereigenen Label ein mit zeitgenössischer Musik befasstes Box-Set veröffentlicht und damit Unsuk Chin (*1961), die diesjährige Preisträgerin des Ernst von Siemens Musikpreises, gewürdigt. Obgleich einige der versammelten Kompositionen bereits in mitunter überzeugenderen Referenzeinspielungen vorliegen, bietet das Medienpaket eine hervorragende Möglichkeit, sich mit dem Schaffen der Wahlberlinerin vertraut zu machen: Neben zwei CDs umfasst es eine Blu-ray, auf der ein 45-minütiges Videointerview mit der Komponistin und fünf der insgesamt sechs eingespielten Werke in Form hochwertiger Video-Mitschnitte zu finden sind. Darüber hinaus erhält man beim Erwerb einen Code, der den Download der Audio-Dateien im High-Resolution-Format erlaubt. Das begleitende Booklet schließlich ist umfangreich und führt anhand eines ausführlichen Porträttextes von Kerstin Schüssler-Bach behutsam in die Eigenheiten von Chins Schaffen ein.
Dass die Produktion nicht in allen Belangen restlos überzeugt, hängt vor allem mit der Postproduktion der Live-Aufnahmen zusammen: So wurde beispielsweise beim Mitschnitt des Violinkonzerts Nr. 1 (2001) der ansonsten von Christian Tetzlaff tadellos dargebotene Solopart eine Spur zu stark in den Vordergrund gerückt, weshalb das kompositorisch ausgewogene Dialogisieren zwischen Violine und Orchesterstimmen zugunsten einer klanglichen Vorrangstellung des Solisten aus der Balance gebracht wird. Vergleichbares gilt für die Aufnahme des Klavierkonzerts (1996/97), wo zu Beginn das gezackte Ineinander von Klavier und Orchesterfigurationen durch Hervorhebung des Solisten Sunwook Kim an Wirkung einbüßt oder im vierten Satz die Farb- und Geräuschkaskaden des Orchesters klanglich eigeebnet werden und ihre Bedeutung als Resonanzraum des Klaviers verlieren. Solchen Momenten stehen wiederum Höhepunkte wie die Komposition Le silence des Sirènes für Sopran und Orchester (2014) gegenüber, deren Wirkung sich den Fähigkeiten Barbara Hannigans verdankt. Ihr anforderungsreicher Stimmenparcour tastet bis in die Extreme hinein die wechselnden emotionalen Qualitäten ab und wechselt mühelos von zärtlichem Gesang in Sprache oder von Koloraturen in sich windende Melodielinien. Und immer wieder lässt sich in den versammelten Kompositionen – so auch im Orchesterstück Rocaná (2017, rev. 2020) – Chins souveräne und außergewöhnlich farbenreiche Instrumentationskunst bewundern, selbst wenn einzelne Mitschnitte in Bezug auf dynamische Abstufungen oder Modellierung von klanglichen Übergängen noch Raum zur interpretatorischen Differenzierung durch Dirigenten und Orchester lassen.
Stefan Drees