Leyendecker, Ulrich
Konzert für Gitarre und Orchester/Evocazione/Sinfonie Nr. 4
Musikliebhaber an Alster und Elbe haben Ulrich Leyendecker noch in bester Erinnerung. Über zwanzig Jahre wirkte er als Theorielehrer und Kompositionsprofessor an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, bevor er 1994 (bis 2005) an die Musikhochschule Mannheim-Heidelberg wechselte. Zwei Jahre danach hob Konzertmeister Roland Greutter mit dem NDR Sinfonieorchester unter Johannes Kalitzke das ihm gewidmete Violinkonzert aus der Taufe (zusammen mit der 3. Symphonie dokumentiert auf Naxos CD 8.557427). 1997 brachte das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart seine 4. Symphonie zur Uraufführung Glanzstück einer bei Musicaphon erschienenen CD, die zudem zwei seiner jüngsten Werke enthält: das 2004/05 entstandene Gitarrenkonzert und die Tondichtung Evocazione von 2006.
Millumino dimmenso dieser Zweizeiler von Giuseppe Ungaretti könnte als Motto über Leyendeckers Werkverzeichnis stehen. Die Illusion unendlicher Räume und zeitlicher Weiten zu schaffen, bezeichnet er selbst als ein Grundthema seines Komponierens. Seine polyfone Musik, welche Reste tonalen Denkens bewahrt, befindet sich in steter Verwandlung, wobei er sich gern der filmischen Technik des Überblendens bedient. In seiner 4. Symphonie, vom Sinfonieorchester des Südwestrundfunks unter Johannes Kalitzke tiefenscharf ausmodelliert, entfalten sich anfangs intervallgroße, rhythmisch gleichförmig fortschreitende Bögen, deren Töne beständig die Farbe wechseln. Indem sie aus der Tiefe in höchste Höhen aufsteigen und sich wieder herabneigen, vermitteln sie den Eindruck räumlicher Weite. Während sie sich mählich zerfalten, entsprießt ihnen ein Kleinterz-Motiv: DNA fast aller künftigen Klangbilder. Der Mittelsatz huldigt dem Kontrastprinzip im Widerspiel solistischer Themen wie in den Wallungen und Ballungen des vollen Orchesters. Der bedächtige Schlusssatz lebt von der Variation früherer Tongestalten. Wie Sternschnuppen verlieren sie sich in der Unendlichkeit des Raumes.
Auslöser des Orchesterstücks Evocazione ein Beitrag zum Mozart-Jahr 2006, den der schwedische Dirigent Per Borin mit dem SWR Rundfunkorchester Kaiserslautern bildkräftig in Szene setzt ist der steinerne Gast aus Mozarts Oper Don Giovanni. Genauer: einige Takte aus der Komturszene, deren rhythmische Kontur und melodische Umrisse Leyendecker fortdichtend beschwört mit dem spät enthüllten Mozart-Zitat als formaler Wendemarke. Es leitet einen Rückbildungsprozess ein, der zum Satzanfang heimführt. Kaum merklich hat Leyendecker ihm ein Schumann-Zitat eingewebt, das der Klavierstimme des Liedes Zwielicht entstammt eine Reverenz an Schumanns 150. Todestag.
Dem mit ihm befreundeten Gitarrenvirtuosen Maximilian Mangold widmete er 2005 ein Konzert, das dieser 2007 mit der Nordwestdeutschen Philharmonie unter Romely Pfund einspielte. Leyendecker reizte und gelang! das beinah Unmögliche: das zarte Zupfinstrument der dynamischen Übermacht eines Orchesters auszusetzen, ohne es untergehen zu lassen. In drei Sätzen je eigenen Charakters beweist sich Leyendecker einmal mehr als Meister entwickelnder Variation und Erfinder neuer Klangfarbmischungen ohne instrumentale Verfremdungen.
Lutz Lesle