Gratzer, Wolfgang

Komponistenkommentare

Beiträge zur Geschichte der Eigeninterpretation

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Wien 2003
erschienen in: das Orchester 03/2004 , Seite 77

Wolfgang Gratzer wendet sich mit seiner Arbeit einem Thema zu, von dem man glauben mochte, es wäre wegen seiner kaum zu überschätzenden Bedeutung längst Gegenstand eingehender Diskussionen: den Eigeninterpretationen der Komponisten. Seltsamerweise fehlen weit gehend einschlägige Darstellungen, sodass diese Arbeit sowohl thematisch als auch methodologisch als grundlegend zu gelten hat. Und dieser grundlegende Charakter tritt auch gleich in der Gliederung und im Aufbau des Buchs hervor: In den beiden ersten Kapiteln („Steht der Wille fürs Werk?“ und „Was heißt ‚Kommentar‘?“) nähert sich Gratzer seinem Thema unter streng systematischen (und nicht historischen) Gesichtspunkten, während das dritte Kapitel, der bei weitem umfangreichste Teil der Arbeit, „Fallstudien“ bietet, die den Komponisten Georg Joseph Vogler, Carl Maria von Weber, Robert Schumann, Hector Berlioz, Richard Wagner, Erik Satie, Arnold Schönberg, John Cage und Karlheinz Stockhausen gelten.
Die Ergebnisse der beiden genannten systematischen Kapitel bieten freilich keine Überraschungen. Nach Gratzer, so seine eigene Zusammenfassung (S. 65), sprechen gewichtige Gründe dafür, „die Verbalisierung von autorintentionalen Gegenständen in Form von Werkkommentaren als perspektivische, in hohem Maß kontextabhängige Interpretationen des Autors zu begreifen, nicht aber diese Kommentare vorbehaltlos als Sprache gewordene Quintessenz autorintentionaler Prozeduren zu stilisieren oder gar so zu tun, als stünde der Wille für’s Werk“. Das scheint eine Trivialität zu sein, deren systematische Ableitung pedantisch wirken mag, dennoch nicht ganz überflüssig ist. Und die Aufschlüsselung der Komponistenkommentare nach Textsorten (autobiografische Äußerungen, theoretische Lehrwerke, Aufsatz, Vortrag/Vorlesung usw.) mag sich einem Ordnungssinn verdanken, der für subaltern gehalten wird, doch macht sie problemlos deutlich, dass ein Komponist möglicherweise bestimmte Textsorten verschmäht oder bevorzugt.
Die meisten Angriffsflächen bieten sicherlich die Fallstudien mit ihrer Komponistenauswahl; aber gegen welche Auswahl ließen sich keine Bedenken erheben! Symptomatisch für die deutschsprachige musikwissenschaftliche Literatur über Musik des 20. Jahrhunderts scheint das Ausklammern von Strawinsky zu sein. Dafür wird die Literatur über Schönberg wieder einmal unnötig vermehrt – unnötig, weil gerade dieser Schönberg-Teil nichts Neues bietet. Und gerade in diesem Teil blieb ein unverständlicher Druckfehler stehen: Schönbergs 2. Streichquartett op. 10 führt die Tonartenbezeichnung fis-Moll, nicht f-Moll (S. 246). Diese Hinweise sollen aber keinesfalls Gratzers Verdienste schmälern. Seiner Arbeit ist eine breite Rezeption vor allem auch unter Musikern zu wünschen; sie wird hoffentlich die Diskussion dieses wichtigen Themas anstoßen und beleben.
Giselher Schubert