Heister, Hanns-Werner / Walter-Wolfgang Sparrer (Hg.)
Komponisten der Gegenwart
26.-29. Nachlieferung
Gehört ein Musiker wie Rued Langgaard, der noch im 19. Jahrhundert geboren wurde und ihm geistig verhaftet blieb, zu den Komponisten der Gegenwart? Für das gleichnamige Loseblatt-Lexikon sehr wohl, da es bei seinem Beginn im Jahr 1992 in dem Zeichen antrat, die seit dem 20. Jahrhundert wirksamen musikalischen Schöpfer auch wenn sie dezidiert gegen die Moderne standen enzykoplädisch zu erfassen. Das ehrgeizige Vorhaben, wiewohl im sicheren Bewusstsein unternommen, dass es nie an sein Ende gelangen wird, schreitet stetig voran. Seitdem das letzte Mal in dieser Zeitschrift von den Komponisten der Gegenwart die Rede war, sind weitere vier Supplemente erschienen, sodass das Projekt nunmehr bis zur 29. Nachlieferung gelangt ist.
Einige auffällige Lücken sind inzwischen wenigstens in Form von zweiseitigen, Basisinformationen bietenden Grundblättern geschlossen: Zu den neu Erfassten zählen so prominente Namen wie Rodion Schtschedrin (den man freilich unter der wissenschaftlich transliterierten Schreibweise seines Namens suchen muss), Allan Pettersson, Gerárd Grisey, Re-becca Clarke, Peter Eötvös, Bronius Kutavic¡ius, Nikos Skalkottas, Josef Tal, La Monte Young und Ruth Zechlin. Aktualisierungen betreffen in jüngerer Vergangenheit Verstorbene wie Luciano Berio, Jose Maceda, Maki Ishii, Goffredo Petrassi, Gerhard Rosenfeld und Ulrich Stranz oder Lebende wie Helmut Lachenmann, Henri Dutilleux und Kurt Schwaen, bei denen es galt, Biografien und Verzeichnisse zu aktualisieren. Erfreulich ist es, dass die Herausgeber sich auch darum bemühen, Komponisten einer jüngeren Generation bis hinab zu etwa Dreißigjährigen lexikalisch zu erfassen, wozu als jüngste die in den 1970er Jahren geborenen Benjamin Schweitzer, Johannes Maria Staud und Jennifer Walshe gehören.
Aber der inhaltliche Schwerpunkt der Neulieferungen liegt dann doch in den ausführlichen Komponistenporträts. Vieles, was auf dem Grundblatt nur kurz umrissen werden und der Gefahr pauschaler Einordnung in Stilkategorien nicht immer ganz entgehen kann, wird erst dort in seiner individuellen Prägung fassbar.
Ausführlich gewürdigt werden in den vier letzten Lieferungen Pierre Henry, einer der Pioniere der Musique concrète, und der ebenfalls zeitweise in deren Umfeld tätige Luc Ferrari, der sich freilich nach der Maxime Stil ist Rassismus künstlerisch nie einengen lassen wollte. Der Argentinier Eduardo Bértola mit seiner musikalischen Arte povera wird ebenso porträtiert wie Robert HP Platz mit seinem holistischen, Überlagerungen ganzer Werkgruppen intendierenden Ansatz. Intensiv dokumentiert sind weiter der in der heutigen Aufführungspraxis schmählich missachtete Boris Blacher und Paul Dessau, der, aus jüdischer Kantorentradition stammend, schließlich in der DDR den schwierigen Spagat zwischen Avantgardeanspruch und verordneter Massenwirksamkeit versuchte. Mit Gewinn liest man auch die Charakterierung des Schaffens von Reinhard Febel mit seiner subversiven Ähnlichkeit zur Neuen Einfachheit.
Erstaunlich ist es, wie detailliert und geradezu analytisch die Autoren der jeweiligen Artikel oft auf Einzelwerke eingehen. Dies gilt bei Febel ebenso wie bei der Darstellung der stilistischen Entwicklung des Komponisten Benjamin Britten im Spannungsfeld zwischen britischer Tradition, kontinentaleuropäischer Moderne und ostasiatischen Anregungen, vernetzt mit Kommentaren zur Rezeption seines Werks. Selbst der noch lebende Hans Werner Henze erfährt eine umfangreiche Darstellung seines uvres, nicht chronologisch, sondern in diesem Fall sinnvoll nach Werkgruppen geordnet, wobei das Musiktheater voransteht, dessen Ästhetik bei Henze die übrigen Gattungen infiltriert.
Gerhard Dietel