Feldmann, Kathrin

Kommunizieren statt Konkurrieren

Das 1. Chordirigier-Forum des Bayerischen Rundfunks

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 12/2003 , Seite 40

Welch Absurdum! Um die Leitung eines Profichors zu übernehmen, werden Erfahrungen mit einem solchen vorausgesetzt. Doch wo Erfahrungen machen, wenn die Möglichkeit der Erfahrung nur besteht, wenn man bereits Erfahrung mitbringt? Nicht nur, aber auch aus diesem Grund gab der Chor des Bayerischen Rundfunks sechs Chorleitern bei seinem 1. Chordirigier-Forum im September die Möglichkeit, insgesamt je zwei Stunden mit den Profisängerinnen und -sängern unter der helfenden Obhut des künstlerischen Leiters Michael Gläser zu arbeiten.
Das Anliegen galt der Nachwuchsförderung sowie dem Kennenlernen von Dirigenten und Dirigentinnen, mit denen der Chor des Bayerischen Rundfunks sich zukünftig eine gelegentliche Zusammenarbeit vorstellen kann. Aus 50 Bewerbungen wurden zwölf zu einem viertelstündigen Vordirigieren eingeladen, von denen die Chormitglieder und Michael Gläser fünf Kandidaten und eine Kandidatin für den Workshop auswählten: Robert Blank, Raimund Wippermann, Tanja Schubert, Andreas Herrmann, Tobias Brommann und Johannes Günter.
In den folgenden vier Tagen – passive Teilnehmer waren willkommen – dirigierten alternierend drei Kandidaten pro Tag je eine Stunde lang ein ihnen am Vorabend bekannt gegebenes Pflichtstück (Auswahl aus: Strawinsky: Psalmensinfonie, Baar-Am: Lamentationes Jeremiae, Sandström: Agnus Dei, Honegger: Roi David, Bach: Gloria aus der G-Dur-Messe). Zum Ende jedes Tages gab es ein kritisches Gespräch zwischen den Teilnehmern und Mitgliedern des Chors sowie Michael Gläser. Spätestens hier zeigte sich dann auch das übergeordnete Ansinnen: Kommunizieren statt Konkurrieren. Nicht nur die Offenheit, Lernfreude und Professionalität der Dirigenten trugen zum Gelingen des Leitsatzes bei, auch der Chor zeigte Flexibilität, Geduld und Hilfsbereitschaft.
Die häufigsten Kritikpunkte bezogen sich auf die Schwierigkeit, das Tempo des Chors zu erkennen und diesem stets einen Schritt vorauszusein sowie einen Mittelweg zwischen einer effektiven, konzentrierten Arbeitsweise und dem gleichzeitigen Aufrechterhalten der Motivation zu finden: Wie viel technische und intonatorische Korrekturen verkraftet der Chor, ohne sich zu verkrampfen, wie oft und wann darf und soll der Dirigent unterbrechen, ohne den Chor zu frustrieren, wie viel Zeit darf einer Stimmgruppe zugewendet werden, ohne dass der Rest des Chors sich langweilt? Temporeiche, knappe Ansagen erfrischen den Chor, ausufernde und leise ermüden ihn, ein ausgeglichener Wechsel zwischen Lob und Kritik wirkt motivierend, zu viel Arbeit am Text schmälert die Musizierfreude. Auch wurde auf die Wichtigkeit von Konsequenz und präzisen Angaben hingewiesen (Gläser: „Fragen Sie den Chor nie, wie es besser gehen könnte, sagen Sie es ihm!“), die sich in Mimik und Gestik des Dirigenten anschließend ebenso präzise widerspiegeln sollte.
Zwischendurch gab Gläser schlagtechnische Korrekturen und stand den Kandidaten hilfreich zur Seite, wenn diese sich zu stark auf ihr Konzept bezogen, statt auf den Moment zu reagieren und mit dem Chor an kaum wahrnehmbaren, aber für einen Rundfunkchor unabdingbaren intonatorischen Feinheiten zu arbeiten oder ein vielseitigeres Klangfarbenspektrum sowie ein passend dosiertes Vibrato zu finden. Gerade hier zeigte sich die anfängliche Scheu und Unsicherheit der Kandidaten im Umgang mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks, der nicht umsonst zu den führenden Chören der Welt gehört. Er verfügt über musikalische Mittel und klangliche Möglichkeiten, von denen – so die Kandidaten – der Leiter eines Laien- oder Halblaienchors nur träumen kann. Kaum möglich, in der Kürze der Zeit all diese Möglichkeiten zunächst einmal zu erfassen und anschließend mit und an ihnen zu arbeiten, um sie im Sinne und zur Veredelung einer Komposition auszuschöpfen oder gar zu steigern.
Dennoch zeigten die Verbesserungsvorschläge nach dem ersten Durchlauf bereits Früchte: Was vorher zu wenig berücksichtigt wurde, wurde jetzt teilweise zu intensiv geprobt, was zu viel war, geriet nun gelegentlich ganz in Vergessenheit. Doch das meiste wurde zur Zufriedenheit aller Beteiligten umgesetzt, die Atmosphäre wirkte entspannter, die Kandidaten hatten Mut gefasst und tasteten sich an die musikalischen Grenzen des Chors heran, reagierten spontaner.
Nach vier Tagen harter Arbeit – der Chor hatte sich stündlich auf einen neuen Kandidaten und ein neues Werk einzustellen, die Dirigenten erschienen bestens vorbereitet und konzentriert vor dem Klangkörper – überreichte der Chorvorstand nach einer Schlussbesprechung den Teilnehmern eine Urkunde, die Dirigenten ihrerseits bedankten sich mit Blumen beim Chor. Michael Gläser zeigte sich zufrieden über den Verlauf des Forums: „Es herrschte eine wunderbare Atmosphäre. Und ich glaube, alle profitierten voneinander.“ Chorvorstandsmitglied Stefanie Gross äußerte sich im Sinne des Chors ebenso erfreut über den musikalischen Austausch: „Es gab viele neue interessante Aspekte der Zusammenarbeit, auch viele erheiternde Momente. Und es ist manchmal auch hilfreich darüber nachzudenken, warum etwas nicht klappt. Der Aspekt des Miteinander war insgesamt entscheidend.“