Heinemann, Michael
Kleine Geschichte der Musik
Seit es Taschenbücher gibt, lässt sich immer wieder einmal ein reizvolles Missverhältnis genießen zwischen bescheidener Gestalt und reichem Inhalt. Die Kleine Geschichte der Musik von Michael Heinemann passt bequem in die Jackentasche und eröffnet dem Leser Welten. Der Autor (Jahrgang 1959) lehrt seit 2000 Musikwissenschaft an der Dresdner Musikhochschule und ist dank seiner zahlreichen Bücher und Aufsätze auch einer breiteren musikinteressierten Öffentlichkeit bekannt.
Was ist und was leistet eigentlich eine Geschichte der Musik? Nach abendländischer Auffassung, die vom griechischen Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis geprägt ist, gehört es wie bei anderen Phänomenen auch zum Begriff der Musik, dass ihre Erscheinungsformen ständig wechseln. Was nichts anderes bedeutet, als dass sie Geschichte hat. Uns ist diese Sicht vertraut, doch es gibt andere Kulturen, in denen eine naturwüchsige, gleichsam vorgeschichtliche Klangwelt ohne das, was wir als Konzepte von Theorie oder Praxis verstehen, auskommt.
In 25 Kapiteln widmet sich Heinemann den für jeweils eine Epoche typischen Gestalten des Musikalischen, wobei er wie jeder gute Historiker durchgehend kritische Distanz zur eigenen Konstruktion hält. Er beginnt seine Darstellungen unter der Überschrift Weltmusik I mit den antiken Mythen der Musik und rundet seinen Gang durch die Zeiten mit der Betrachtung Weltmusik II, die Perspektiven multikultureller Offenheit erschließt. Dort heißt es: Die Möglichkeit, [
] die Traditionen anderer Völker und Länder extensiv kennen zu lernen, lässt vorschnelles Urteilen nicht mehr zu. [
] Die neue Offenheit für die Tradition anderer Kulturen führt zudem unmittelbar zu einer Kritik jenes Fortschrittsdenkens, das für die europäische Musikgeschichte und die Bewertung von Kompositionen konstitutiv war.
Die gegenwärtige, also historisch junge Offenheit hat mit großem Gewinn für den Leser den Horizont des Autors in jedem einzelnen Kapitel der europäischen Musikgeschichte bestimmt. Heinemann gelingt es durchgehend, die Ebenen von Tatsachen und Bedeutung miteinander zu vermitteln, sodass er schließlich eine tiefgründige Sozial- und Kulturgeschichte am Beispiel der Musik bietet, ohne die innermusikalischen Einzelheiten verschwimmen zu lassen.
Da das eine nie auf Kosten des anderen geht, erschließt sich dem Leser auch eine so schwierige Erscheinung wie die intrikate Isorhythmie der frühen Mehrstimmigkeit und Ars nova unter der Kapitelüberschrift Komposition. Es heißt zur Eröffnung: Mehrstimmigkeit bedeutet Individualisierung. Was das bedeutet, versteht man, weil Heinemann im vorangehenden Abschnitt unter dem Titel Individuum dargelegt hat, wodurch sich das musikalische Bewusstsein im 12. Jahrhundert auszeichnete.
Nach der Ars nova beschreibt der Autor die Phase der Intellektualität, die es in ihrer bewussten Abkehr vom großen Publikum eben nicht erst in der Zweiten Wiener Schule gab. Heinemann erzählt vom Klangsinn und Instrumentenbau im 17. und von der Affektenlehre im 18. Jahrhundert und warum deren Kompositionen bis heute präsent sind und von uns verstanden werden, ohne dass wir den historischen Kontext kennen.
Als Kennzeichen der jüngeren Vergangenheit behandelt er Themen wie Macht (Musik auf Befehl) oder Experiment (Provokation und der Verzicht auf das Schöne).
Das Buch ist anspruchsvoll, nicht zuletzt wegen seiner Knappheit, doch dabei so souverän und gut geschrieben, dass der bereitwillige Leser nicht auf der Strecke bleibt.
Kirsten Lindenau


