Evgeny Kissin
Klaviertrio op. 6
Urtextausgabe
Der 1971 in Moskau geborene Evgeny Kissin dürfte den meisten als vielfach ausgezeichneter Pianist bekannt sein. Sein kompositorisches Werk ist indes noch nicht sehr umfangreich – mit einer Toccata für Klavier, einer Sonata-Ballade für Cello und Klavier und einem Streichquartett. Das vorliegende Klaviertrio wurde 2022 komponiert. Im Februar desselben Jahres gehörte Kissin zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs, in welchem über 400 russische Musiker:innen den Überfall auf die Ukraine verurteilten.Diese Kriegsthematik wird in dem dreisätzigen, knapp 20-minütigen Werk verarbeitet. Die Tonsprache ist, wie es die Thematik nahelegt, ziemlich rau und auf dynamische Extreme angelegt. Motorische Akkordschläge, an Prokofjew oder Strawinski erinnernd, bilden immer wieder den Grundpuls zu einer rastlos treibenden Bewegung. Und selbst in den ausdrucksvollen leiseren Passagen, wie beim Beginn in dem bitonal gefärbten Unisono, ist das Unheil jederzeit spürbar. Die von scharfen Dissonanzen geprägten Akkordschläge des Klaviers werden zudem durch perkussive Cluster, mit der Faust und dem Unterarm auszuführen, verstärkt. Violine und Violoncello übernehmen die pulsierenden Akkordbewegungen mit oftmals jeweils dreistimmigen Klängen. Kräftige Glissandi, im ersten Satz in Abwärtsbewegung, im dritten Satz in Aufwärtsbewegung, illustrieren zusätzlich das Klanggeschehen. Dem tosenden Kriegstreiben stehen als ausgleichende Kräfte kurze, nur wenig besänftigende Motive gegenüber, welche Teil eines Volkslieds sein könnten. Sie werden aber vom übermächtigen Klanggeschehen zumeist verdrängt. Erst im fulminanten Schlusssatz setzt sich ein mit Tanzbässen und Arpeggien begleiteter volksmusikalischer Gesang, kanonisch und in Oktaven bei den Streichern, durch.
Aus den Klavierclustern schält sich am Ende ein reiner Quintklang auf C im flirrenden Fortissimo heraus – eine musikalisch eher wenig befriedigende Lösung, vor allem in Hinblick auf die Offenheit und Dramatik des aktuellen Konflikts, auf den das Werk hindeutet.
Die Notenausgabe ist sehr gut lesbar. In der Klavierpartitur gibt es wichtige Hinweise zum Pedalspiel und im dritten Satz zudem Fingersätze. Die Streicherstimmen enthalten Orientierung gebende Stichnoten und sind blättertechnisch geschickt eingerichtet.
Für professionelle Klaviertrios ist dieses vor zwei Jahren komponierte Werk ein zeitgenössischer und zudem sehr zeit-aktueller Beitrag. Es stellt, auch wenn man sich manchmal ausgefeiltere, mehr in die Tiefe führende Kompositionstechniken gewünscht hätte, sicher eine Bereicherung für das Konzertrepertoire dar.
Christoph J. Keller