Widor, Charles-Marie

Klavierquartett op. 66/Symphonie gothique op. 70

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ambiente Musikproduktion ACD 3010
erschienen in: das Orchester 05/2010 , Seite 73

Auch wer keinerlei Orgelmusik bewusst kennt, kennt garantiert dieses Stück: die Toccata von Charles-Marie Widor, nach derjenigen von Bach die Nummer Zwei unter all den Orgel-Toccaten: ein sich rastlos vorwärts walzender Marsch, gern gewünscht zum Abschluss bei kirchlichen Familienfeiern wie Hochzeit oder Taufe. Wirkungsvoll – aber leider von ärmlicher Substanz. Widor hat weitaus Besseres und Substanzvolleres geschrieben für sein Instrument, die Cavaillé-Coll-Orgel in der Pariser Kirche Saint-Sulpice, an der er 64 Jahre als Organist wirkte. Allein zehn Orgelsinfonien hat er hinterlassen und damit eine noch junge Gattung fest etabliert. Diese Sinfonien zählen zum gesicherten und viel gespielten Repertoire der Organisten und sind, was CD-Aufnahmen betrifft, in einer enormen Bandbreite dokumentiert.
Ganz im Gegensatz dazu fristet Widors Kammermusik ein Schattendasein, sowohl im Konzertleben als auch auf Tonträgern. Das könnte sich ändern, denn mit seiner Interpretation des Quartetts op. 66 wirbt das Movendo-Klavierquartett nachdrücklich für Widors Beitrag zu diesem Genre. Ein klares Plädoyer für die hohe Qualität dieser Musik.
Überraschend ist der Tonfall des Kammermusikers Widor, der weit entfernt ist vom Mondänen, Triumphalen manch seiner Orgelwerke. Im Gegenteil, ein unerwartet slawischer Zug steckt gleich im Kopfsatz, ein Hauch von Dvorák liegt in der Luft. Originell auch der zweite Satz, eröffnet von einem herrlichen Gesang des Cellos. Das munter purzelnde Scherzo sowie das ausgedehnte Finale sind abermals geprägt von osteuropäischen Klangeinflüssen. Das ist Musik, die zu entdecken sich wirklich lohnt, die bereichernd ist für die Konzertprogramme. Wenn sie zudem noch mit so viel Hingabe und Lust am Musizieren umgesetzt wird wie hier, ist alles perfekt. So ein Spiel steckt an.
Wer den Orgel-Widor schätzt, wird mit dieser CD ebenfalls gut bedient. Thomas Schmitz, Jahrgang 1971, seit 2003 Domorganist in Münster, meditiert an der Orgel des Paulusdoms Widors Gedanken zum gregorianischen Weihnachts-Introitus Puer natus est, dem zentralen Thema der neunten Orgelsinfonie mit dem Beinamen gothique. Das kann musikalisch ganz beschaulich ausfallen, wie eine idyllische, friedliche Hirtenmusik (der zweite Satz) oder als himmelsstürmend rauschendes Fortissimo (die große Entwicklung im Finalsatz). Dazwischen liegen ganz unterschiedliche Stimmungen, den Bogen schlagend vom düsteren Beginn bis zum friedlichen Verschwimmen des Ganzen. Schmitz spürt der wechselhaften Atmosphäre dieser Musik sensibel nach, schöpft dabei klanglich aus dem Vollen, hört stets sehr genau in den riesigen Raum des Doms hinein. Den so entstehenden idealen Raumklang fängt die Aufnahmetechnik sehr gut ein.
Hier also der berühmte, dort der vergessene Widor – mit dieser Einspielung bekommt man beides zugleich!
Christoph Schulte im Walde

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