Hindemith, Paul

Klaviermusik (linke Hand)

mit Orchester op. 29

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2004
erschienen in: das Orchester 05/2005 , Seite 75

Wer sich mit dem Werkverzeichnis von Paul Hindemith einmal näher beschäftigt hat, der wird sicherlich auch über die wenigen weißen Flecke gestolpert sein. So sind neben den im Unterricht bei Arnold Mendelssohn und Bernhard Sekles entstandenen Werken auch die Klaviersonate op. 17 und einige Scherzkompositionen aus den 20er Jahren während des Zweiten Weltkriegs bei einem Bombenangriff in Hindemiths altem Domizil, dem Frankfurter Kuhhirtenturm, verbrannt. Bei einem anderen Werk, von dem man ebenfalls nur Titel und Opuszahl kannte, war jedoch davon auszugehen, dass es sich erhalten hat. Und tatsächlich schlummerte es bis vor wenigen Monaten in Privatbesitz: die Klaviermusik (linke Hand) mit Orchester op. 29.

Das Werk entstand Anfang 1923 auf Bestellung von Paul Wittgenstein (1887-1961), der im Ersten Weltkrieg den rechten Arm verloren hatte, seine pianistische Laufbahn aber dennoch fortsetzen wollte – und aus diesem Grund ein ganzes Repertoire (Kammermusik und Konzerte) bei den verschiedensten Komponisten in Auftrag gab. Nicht nur die schöpferische Herausforderung, sondern auch das in harter Währung (Dollar) ausgezahlte Honorar machten eine derartige Anfrage besonders attraktiv. Hindemith ahnte aber wohl schon, dass sein Werk bei Wittgenstein auf wenig Gegenliebe stoßen sollte, denn er schrieb: „Es würde mir leid tun, wenn Ihnen das Stück keine Freude machen würde – vielleicht ist es Ihnen anfänglich ein wenig ungewohnt zu hören – ich habe es mit großer Liebe geschrieben und habe es sehr gerne.“ Reaktionen von Wittgenstein sind nicht überliefert, auch spielte er das Werk niemals öffentlich. Hindemith wiederum hatte das Eigentumsrecht abgetreten, sodass die Partitur auch nicht im Druck erscheinen konnte.

Erst als 2002 der Nachlass von Wittgenstein zugänglich wurde, kam nach 79 Jahren eine recht fehlerhafte (aber korrigierbare) Abschrift zu Tage (leider aber nicht das von Hindemith übersandte Manuskript). Kurz gesagt: Bei der Klaviermusik op. 29 handelt es sich um eine kleine Sensation, vielleicht gar um ein „Missing Link“. Denn das am 9. Dezember 2004 in Berlin uraufgeführte und nun auch gedruckt vorliegende Werk bietet von der formalen und satztechnischen Anlage her schon all das, was sich etwas später in den von Hindemith so genannten Kammermusiken op. 36 (Soloinstrument mit kleinem Ensemble) manifestiert (auch wenn sich die Behandlung des Schlagwerks noch so revolutionär wie in op. 24/1 gebärdet). Die drei unmittelbar aufeinander folgenden Sätze, denen noch eine selbstständige, gewichtige Einleitung vorangeht, zeigen Hindemiths rhythmische Radikalität, aber auch seine oft überhörten leisen Töne (im „Trio. Basso ostinato“, mit einem herrlich unterkühlten Duett zwischen Englischhorn und Klavier).

Anders als die späteren, sehr speziell besetzten Kammermusiken verlangt Hindemith in seiner Klaviermusik op. 29 trotz aller kontrapunktischer Finesse ein vollständiges Orchester – was sich aber in der Praxis als Vorteil erweisen sollte.

Michael Kube