Antje Rößler

Klaviere, Chöre und Kostüme

Eine kleine Musikgeschichte von Meiningen in Thüringen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: AKRES Publishing, Wuppertal
erschienen in: das Orchester 6/2024 , Seite 64

Andere Städte haben ein Theater. Meiningen ist ein Theater mit etwas Stadt drumrum. Diesen Eindruck bekommt nicht nur, wer als Reisender in dem südthüringischen Städtchen vorbeischaut, sondern auch, wer sich mit Meiningens Geschichte beschäftigt: Am Theater kommt man einfach nicht vorbei. Das galt besonders Ende des 19. Jahrhunderts, als die Schauspieltruppe von Herzog Georg II. mit Gastspielen von sich reden machte und eine neue, epochemachende Ästhetik auf die Bühnen brachte; und es wirkt bis heute nach.
Zu einem Blick in die Musikgeschichte Meiningens lädt Antje Rößler mit ihrem handlichen Buch Klaviere, Chöre und Kostüme ein. In 20 Kapiteln führt sie ihre Leserinnen und Leser von den Anfängen des Meininger Musenhofes um 1700 bis ins 21. Jahrhundert. Anschaulich beschreibt sie, warum die thüringische Kleinstaaterei ein Segen für die Meininger Theater- und Musikkultur war – die winzigen Herzogtümchen waren notorisch unterfinanziert, und „ein Theater oder eine Hofkapelle zu unterhalten, war preiswerter, als Schlösser zu bauen, Schmuck zu sammeln, Rennpferde oder große Armeen zu halten“ – und welche Berühmtheiten in Meiningen Musik machten: von Johann Ludwig Bach über Max Reger bis hin zu Richard Strauss. Dass der theaterversessene Georg II. die Opernsparte aufgab, förderte sogar den Aufstieg des Orchesters. Hofkapellmeister Hans von Bülow durfte die Kapelle von 36 auf 50 Musiker vergrößern.
Grieg und Brahms waren in Meiningen zu Gast, Ludwig Bechstein lebte hier und sammelte Musikinstrumente, Eugen d’Albert und Joseph Joachim kamen 1899 zum Musikfest. Doch die Autorin spart auch die düsteren Kapitel selbstverständlich nicht aus. Spätestens 1935 war das Meininger Theater samt Orchester im Nazi-Sinne gleichgeschaltet; dass die Kapelle eine Fusion mit dem Weimarer Orchester abwenden konnte, indem es sich 1939 bei der von den Nazigrößen verehrten Komponisten-Schwiegertochter Winifred Wagner einschmeichelte, ist eine Posse aus finsterer Zeit. Ein Kapitel widmet Rößler dem Komponisten Günter Raphael, der von der SS verfolgt wurde. Meininger Musikerbiografien aus der Zeit des Nationalsozialismus – solche von Opfern wie von Tätern und Angepassten – wären zweifellos eine eigene Veröffentlichung wert.
Dass das Meininger Theater immer wieder Startrampe großer Karrieren war, zeigt Rößler u. a. am Beispiel Frido Solters, Elı-na Garančas und Kirill Petrenkos. Das eigentliche „Wunder von Meiningen“ aber, das wird bei der Lektüre des letzten Kapitels klar, besteht darin, dass es das Theater und sein Orchester bis heute gibt – bei guter Auslastung und auf hohem künstlerischen Niveau. Dieses Wunder ist über Meiningen hinaus in ganz Thüringen zu besichtigen, einem kleinen Land mit sehr großer Kultur. Es liegt an uns, sie zu erhalten.
Frauke Adrians