Friedrich Cerha

Keintate I, II (parts)

Version for baritone and Viennese Schrammel quartet, Holger Falk (Bariton), attensam quartett

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Kairos 0015107KAI
erschienen in: das Orchester 6/2023 , Seite 71

Friedrich Cerha berichtet, dass er mit den Texten des Wieners Ernst Aloysius Kein (1922–1985) seine eigene Regional-Identität entdeckt habe. Die beiden Keintaten – uraufgeführt 1983 und 1996 – sind durch ihre Mixtur aus süffiger wie fragmentierter Melodik und aparter Instrumentation mit Akkordeon ein Hybrid aus Liedzyklus und Kantate. Manche Dinge brauchen Zeit und einen Anstoß. Die Geigerin Annette Bik ließ bei Cerha nicht locker. Sie drängte so hartnäckig, bis dieser nach und nach die beiden Keintaten für die Schrammel-Besetzung des attensam quartett mit zwei Geigen (Annette Bik, Sophie Schaf­leitner), Altwiener Knöpferlharmonika (Ingrid Eder) und Altwiener Kont­ragitarre (Michael Öttl) von ihrer ursprünglichen Dauer mit 105 auf flotte, kurzweilige und sentimentale 41 Minuten eindampfte. Eine Tabelle im Book­let zeigt diesen Transformationsprozess.
Während in den Uraufführungen der Keintaten explizit eine „mittlere Stimme (Chansonnier)“ gefordert war, verpflichtete man für die Ersteinspielung der Schrammel-Fassung den Bariton Holger Falk. Es erstaunt nicht, dass der Sänger einer kongenialen Anthologie mit Liedern von Hanns Eisler auch in den Keintaten glänzt. Falks Annäherung an den Wiener Dialekt zeugt von artistischem und artifiziellem Geschick. Er setzt Konsonanten und imitiert die Farben der Vokale ohne Anspruch auf akzentfreie Phonetik. Das attensam quartett durchschwelgt Cerhas Arrangements mitsamt Mahler- und Straußzitaten mit einer Attitüde von natürlicher Verve. Dieser Volksmusikton wirkt wie Rosmarin-Erdäpfel auf Swarovski-Tellern, verdichtet die künstlerisch gekünstelte Haltung der Poeme Keins und Cerhas bodenständig, derb und stellenweise melancholisch. Auf einen lustigen Marsch folgt gleich der erste Weltschmerz: „Der Maronibrater gibt mir jedes Jahr für den gleichen Betrag eine Maroni weniger und ich sehe den Tag schon kommen, an dem er mir ein leeres Papiersackerl in die Hand drückt.“ Falk beginnt die Silben deutlich und lässt sie minimal schleifen, verzieht sie etwas im Gesangston. Dieses Schleifen gibt es auch in den Violinen. Es erzählt von Weltschmerz im Wiener Alltag und wie man mit diesem Selbstmitleid ganz gut lebt.
So eine Gekünsteltheit wirkt zeitlos, wie ein Relikt aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert mit einer nicht totzukriegenden Kontinuität. Das attensam quartett hat diesen Ton in den musikalischen Genen und Holger Falk hat sich in dieses Idiom offenbar verliebt. Trotzdem klingt es bei ihm weder wie falsche Operette noch nach böser Wiener Posse. Es bleibt nur die Frage, ob der inzwischen verstorbene Cerha diese Vertonungen ernst gemeint hat, ob diese für die meisten Hörer:innen nicht erkennbare Seitenhiebe auf Wiener Zeitgenossen enthalten oder ob die Musik mit den Tücken des Textes versöhnen will. Alles möglich.

Roland Dippel