Uehling, Peter

Karajan

Eine Biographie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt, Reinbek 2006
erschienen in: das Orchester 11/2006 , Seite 82

Es ist still geworden um ihn, der vielen als bedeutendster Dirigent der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt. Schon bald nach Herbert von Karajans Tod im Juli 1989 äußerte man sich, wenn überhaupt, nur noch abschätzig und höhnisch über ihn. In zwei Jahren aber dürfte eine kleine Karajan-Welle über uns hinwegrollen, denn dann wäre der Maestro hundert geworden. Als Amuse-Gueule ist jetzt Peter Uehlings Biografie über den am Ende verbitterten, mit seinem Orchester zerstrittenen Pult- und Medienstar erschienen.
Der Untertitel täuscht, denn Uehling liefert keine Lebensbeschreibung. Das lässt sich höchstens von den ersten vier Kapiteln sagen, gerade mal ein Achtel des Buchs. Nach Klavierstudien am Mozarteum und in Wien (ein Maschinenbaustudium bleibt Episode) müssen erst die Lehrer, darunter Bernhard Paumgartner, den Zwanzigjährigen auf das Dirigieren stoßen. Bei Karajans zweitem Dirigat (mit Don Juan und Tschaikowskys Fünfter) ist der Intendant des Ulmer Stadttheaters zugegen, der ihn als Kapellmeister verpflichtet. Nach fünf Lehrjahren in der Provinz geht Karajan 1934 nach Aachen, wo er bald Deutschlands jüngster Generalmusikdirektor wird, was ohne der NSDAP beizutreten so zügig nicht möglich gewesen wäre.
Das Debüt des zum Gegenspieler Furtwänglers stilisierten Karajan bei den Berliner Philharmonikern wird 1938 zu einem durchschlagenden Erfolg, und der in der Staatsoper gegebene Tristan wird bereits unter der Überschrift „Das Wunder Karajan“ besprochen. Im selben Jahr entsteht mit der Preußischen Staatskapelle die erste Aufnahme, die Ouvertüre zur Zauberflöte.
Von nun an ist für Uehling das „Leben des Menschen Karajan“ nur noch von Interesse, wenn es dessen „künstlerische Entwicklung erklären hilft“. Wenn uns der Mensch Karajan doch begegnet, dann als herrschsüchtiger Geschäftsmann, ja als Scheusal, das wichtige Verhandlungen in die Konzertpause legt, das in Boston sogleich vom Podium geht, um nicht wiederzukehren, es mit dem Streit um die Klarinettistin Sabine Meyer in die „Tagesschau“ schafft und einen Berliner Philharmoniker „einen der fünf Besten auf seinem Instrument“ nennt, „aber vom Charakter her einen der fünf Miesesten“.
An die Stelle der Biografie tritt, neben reizvollen Bemerkungen zum Publikumswandel, die Würdigung des Vermächtnisses, wie es auf über 800 Aufnahmen, auf Film und Bildplatten dokumentiert ist. Die ins Detail gehenden vergleichenden Analysen stellen Karajan Toscanini gegenüber, Furtwängler oder Knappertsbusch, auch Karl Böhm, Boulez und Harnoncourt.
Nicht alle Leser dürften allerdings Sätzen wie diesem folgen können: „Soll die übermäßige Sexte, also etwa das fis über dem as, höher gespielt werden als die Septime ges über as, um den zugrunde liegenden übermäßigen Sextakkord vom Dominantseptakkord zu unterscheiden?“ Ohnehin sollte man die Aufnahmen zur Hand haben, am besten auch die Partituren, denn Taktangaben bleiben nicht aus.
Es verwundert, dass es einem Buch, das sich so intensiv mit Einspielungen beschäftigt, an einer Diskografie mangelt. Auch eine Zeittafel enthält Uehlings Buch nicht (beides ausführlich in Franz Endlers Porträt von 1992), und Claudio Abbado wird lediglich gestreift, Simon Rattle und die Gegenwart der Berliner Philharmoniker fast vollständig außen vor gelassen.
Stilistisch stört, neben dem überzogenen Ton, Uehlings Vorliebe für Doppelpunkte. Weitere Beanstandungen gelten falschen Zitaten und Seitenangaben. Und wenn Uehling vom „Ansatz“ der Blechbläser spricht, den es natürlich auch gibt, meint er schlicht „Stoߓ.
Jürgen Gräßer