Jan Kampmeier

Kammermusik der Moderne 1900–1940

Zeitgemäßes Komponieren abseits der Neuen Musik bei Paul Juon und anderen

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: epOs-Music
erschienen in: das Orchester 01/2024 , Seite 62

„Heute ist es modern, bald wird es modern.“ Ein unverständlicher Satz? Freilich, so lange er nicht ausgesprochen und richtig betont wird, nämlich einmal auf dem „e“, beim zweiten Mal auf dem „o“ in der Buchstabenfolge „modern“. Wie problematisch der Gebrauch des Wortes „modern“ (in ersterer Betonung) ist, wird in dem hier vorgestellten Buch Kammermusik der Moderne nur zu deutlich gemacht, das als Dissertation an der Universität Osnabrück entstanden ist. Sowohl bei Diskursen seit dem frühen 20. Jahrhundert wie in späteren musikwissenschaftlichen Wertungen werden Wörter wie „Moderne“, aber auch „Neue Musik“ und im Gegensatz dazu „Spätromantik“ in der Anwendung auf die zeitgenössische Musik überaus diffus gehandhabt, wie der Autor mit umfangreichem Zitatenmaterial belegt.
Ohne eine wohl ohnehin vergebliche Begriffsklärung zu versuchen, benutzt Kampmeier die Vokabel „Moderne“ in seiner Arbeit pragmatisch als Bezeichnung für einen dritten Weg der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts zwischen dem ausgesprochenen Avantgardismus der zweiten Wiener Schule und rein konservativem Komponieren, gekennzeichnet durch einen „kreativen Umgang mit Elementen der Tradition“. Was Kampmeier hiermit als These aufstellt, ist eher der Entwurf zu einem Forschungsprojekt, zu dem das zweite Kapitel seiner Arbeit nur Skizzen liefern kann. Als Kandidaten für „zeitgemäßes Komponieren abseits der Neuen Musik“ nennt der Autor Musiker wie u. a. Heinrich Kaminski, Felix Petyrek, Philipp Jarnach, Othmar Schoeck, Frank Bridge, Alexander Zemlinsky, Sigfrid Karg-Elert, während er bei Jean Sibelius eher Indizien für spätromantisches Komponieren feststellt.
Am interessantesten dürfte der dritte Teil dieser Dissertation sein, in welcher der Autor sich ausgewählten Kammermusikwerken des russisch-schweizerischen Komponisten Paul Juon (1872–1940) zuwendet, den er als Repräsentanten der in seinem Sinn verstandenen „Moderne“ beschreibt. Speziell besprochen werden Juons Klavierquintett op. 33, seine Cellosonate op. 54, die Tondichtungen (sic!) Litaniae und Jotunheimen für Klaviertrio bzw. zwei Klaviere, die Klarinettensonate op. 82 und das Trio d’anches Arabesken op. 73. Bei den Analysen dieser Werke entdeckt Kampmeier modale Färbungen der Tonalität, gezielten Dissonanzengebrauch, offene Quart- und Quintfolgen, Polyharmonien, im Einzelfall auch montage- und collageartige Kompositionstechniken. Das sollte Neugier auf eine zwar zum Teil auf Tonträgern eingespielte, aber im Konzertleben kaum präsente Musik wecken und dem einen oder anderen Leser den Impuls geben, sich mit Juons Schaffen näher zu befassen.
Gerhard Dietel