Turnage. Mark-Anthony
Kai for Solo Cello and Ensemble (1989-90)
Piano Reduction by John Blood, Klavierauszug und Solostimme
Der 1960 geborene Mark-Anthony Turnage gehört zu jenen zeitgenössischen Komponisten, die zeitlich und räumlich in sicherer Distanz zu Darmstadt und zum hermetischen Mainstream der Stockhausen-Ära unbefangen auf das Erbe der Tradition(en) zurückgreifen und von neuem Mut beseelt sind, Kategorien wie Expressivität und Verständlichkeit ins Zentrum ihres musikalischen Tuns zu rücken. So verwundert nicht, dass der Jazz zu einer Haupteinflussquelle der Musik des Briten wurde. Viele Werke Turnages enthalten Passagen, die vernehmlich von diesem Einfluss künden und zu den originellsten Jazz-Anverwandlungen in der so genannten E-Musik der vergangenen Jahrzehnte zählen. Oder um es mit den Worten des Komponisten zu sagen: Plötzlich fand ich heraus, dass diese Weltklasse-Leute Thelonious Monk, John Coltrane, Miles Davis , die aus der Musikgeschichte ausgeklammert wurden, in den fünfziger Jahren Sachen gemacht hatten, die interessanter waren als zum Beispiel Boulez Pli selon pli.
In Turnages Musik steht die Frage Coltrane oder Boulez? für weit mehr als nur eine stilistische Ausrichtung. Sein Schaffen ist geprägt von der Intention, die Wertvorstellungen unserer Zeit, die soziale Situation des Menschen, seine Nöte und Freuden musikalisch zu erfassen. Wenn er provozierend formuliert, Musik vergangener Zeiten interessiert mich kaum. Was hat sie mit mir zu tun? Was mich musikalisch beschäftigt, ist das Überleben des Individuums, so erhellt aus diesen Worten ein von tiefer Humanität geprägtes künstlerisches Credo.
Aus den Jahren 1989 bis 1992, in denen Turnage als Composer in Association zahlreiche Werke für das Birmingham Symphony Orchestra schrieb, stammt die Komposition “Kai” für Violoncello und Kammerensemble, eine eindrucksvolle Trauermusik im Gedenken an den Cellisten Kai Scheffler, der in den 1980er Jahren Mitglied des Ensemble Modern war und 1989 verstarb.
In dem gut zwanzigminütigen Stück ist das Solo-Cello fast durchgehend in ausgedehnten lyrischen Linien von schmerzvoll-klagendem Charakter zu hören, kontrapunktiert durch ein jazz based Ensemble inklusive Saxofone, Bassgitarre und Drumset. Der Komponist charakterisiert dieses Orchester-Accompagnement als sometimes aggressive, claustrophobic. Seinen lyrischen Grundcharakter verlässt der Cellopart lediglich in einer wilden Kadenz ihre Vortragsbezeichnung lautet: Manic and free, unterstützt durch die Angaben ffff, staccato, rough bowing , die als Bindeglied zwischen zwei jazzartigen Passagen fungiert. Im Schlussabschnitt greift Turnage auf eine Arie seines Opernfragments Mingus zurück und gestaltet hieraus einen bewegenden Abgesang über dem Orgelpunkt cis, dem Zentralton auch des Eröffnungsabschnitts von Kai.
Es ist zu wünschen, dass die hier vorgelegte Ausgabe weitere Cellisten zum Studium des technisch nicht übermäßig schwierigen, dafür Einfühlungsvermögen, Flexibilität und eine große klanglich-dynamische Bandbreite erfordernden Werks anspornt.
Gerhard Anders