Bach, Johann Sebastian

Johannespassion

Passio secundum Joannem, Fassung II (1725), Stuttgarter Bach-Ausgaben, Urtext

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Carus, Stuttgart 2004
erschienen in: das Orchester 09/2005 , Seite 83

Bach hat seine Johannespassion mindestens viermal in Leipzig aufgeführt. Der Umstand, dass er jedes Mal eine Vielzahl von kleinen und tief greifenden Änderungen vornahm, stellt den Herausgeber in seinem Bemühen um eine „authentische“ Fassung vor schier unlösbare Probleme. Bei der Uraufführung 1724 erklang das Werk wahrscheinlich weitgehend in der uns vertrauten Gestalt. Vorwiegend in den Sätzen 1 bis 10 finden sich schlichtere Satzweisen, die Rezitative Nr. 33 und 38 sind kürzer, die Mitwirkung von Querflöten ist unklar.
Ein Jahr später erstellte Bach die hier vorgelegte Fassung II, die sich erkennbar in das Konzept des Choralkantaten-Jahrgangs einfügt: Der Eingangschor ist ersetzt durch den Choralchorsatz „O Mensch, bewein dein Sünde groߓ (hier in Es-Dur), der später den Schluss des ersten Teils der Matthäuspassion bilden sollte (dort in E-Dur); der Schlusschoral ist ausgetauscht gegen „Christe, du Lamm Gottes“, entnommen aus der Kantate 23 „Du wahrer Gott…“; drei Arien, die möglicherweise aus einer früheren verschollenen Passionsmusik stammen, sind eingefügt; zwei Arien aus Fassung I entfallen; das Rezitativ Nr. 33 ist mit einem Texteinschub aus dem Matthäusevangelium erweitert.
In Fassung III (ca. 1730) hat Bach die Änderungen der Fassung II weitgehend zurückgenommen und beide Einschübe aus dem Matthäusevangelium getilgt. Die beiden darauf bezogenen Arien wurden durch heute verschollene Sätze ersetzt. Um das Jahr 1739 begann Bach mit einer umfassenden Revision des Werks, die jedoch in Satz 10 abbricht – vielleicht eine Folge des behördlichen Aufführungsverbots von 1739. Erst Jahre später wurde diese Partitur von einem Kopisten vervollständigt, dem die heute verschollene Uraufführungspartitur von 1724 vorgelegen haben muss.
1749 wurde das Werk in der vierten Fassung aufgeführt. Die uns vertrauten differenzierten Lesarten der Revision wurden jedoch nicht in die Stimmen übernommen. Abgesehen von einer Erweiterung der Besetzung haben einige der Veränderungen den Charakter von Behelfslösungen: Violen d’amore, Laute und Viola da gamba wurden ersetzt, einige Textstellen in den madrigalischen Sätzen wurden dem Zeitgeist entsprechend umformuliert.
Angesichts einer so komplexen Entstehungsgeschichte haben sich bisherige Herausgeber für eine „Idealfassung“ entschieden, die so weit wie möglich der Revisionspartitur folgt, dann aber die „besten“ Lesarten aus den Fassungen I und IV wiedergibt. Die NBA bietet darüber hinaus im Anhang die Varianten der Fassungen I, II und IV sowie einen der Fülle der Probleme entsprechenden kritischen Bericht. Wer dieser verdienstvollen Ausgabe die einzelnen Fassungen entnehmen möchte, muss mit großem Aufwand das Material ordnen und wird trotzdem wahrscheinlich die zu den Fassungen I und II gehörende kürzere Version des Rezitativs Nr. 38 übersehen.
Hier schafft die vorliegende Edition Abhilfe. Der zuverlässige, gut lesbare Notentext wird ergänzt durch eine bemerkenswert übersichtliche Konkordanz der verschiedenen Fassungen, ein informatives Vorwort des Herausgebers sowie einen kritischen Bericht, der die ausufernde Materialfülle souverän bewältigt. Zu Satz 11+ wird ein Stimmführungsfehler benannt (Takt 22,
Fl. II). Hier hätten Lösungsmöglichkeiten (z.B. Fl. I: h” statt gis”) diskutiert werden können.
Als Aufführungsmaterial benötigt man die Stimmen zur gleichfalls veröffentlichten Fassung IV, die mit Einlagen zur Fassung II zu ergänzen ist.
Die Begegnung mit den verschiedenen Fassungen der Johannespassion eröffnet uns die Möglichkeit, Vertrautes neu zu erleben und dabei die Veränderungen und Konstanten eines Vierteljahrhunderts von Bachs Schaffenszeit zu reflektieren.
Jürgen Hinz

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