Bach, Carl Phillip Emanuel
Johannes-Passion
Auf dem Cover der Doppel-CD ist von einer Johannes-Passion von Carl Philipp Emanuel Bach zu lesen, die erstmals seit 1772 aufgeführt und deren Mitschnitt hier als Ersteinspielung präsentiert wird. Ermöglicht wurde diese erste Aufführung seit 1772 durch die Rückgabe des 1945 gestohlenen Archivs der Sing-Akademie zu Berlin, die 2001 aus der Ukraine zurückkehrte. Aber handelt es sich wirklich um eine Johannespassion des zweiten Bach-Sohnes? Der kompetent geschriebene Booklet-Text gibt eine Auskunft, die, wenn sie auch dem Cover nicht direkt widerspricht, so doch zumindest ein Fragezeichen setzt.
1767 kam Carl Philipp Emanuel Bach, bis dato Cembalist am Hofe Friedrichs des Großen in Berlin und Potsdam, nach Hamburg. Er trat die Nachfolge seines Patenonkels Georg Philipp Telemann als städtischer Musikdirektor an. Dieser hatte in den rund 46 Jahren seines Wirkens in Hamburg etwa 2000 Werke komponiert, von denen viele gedruckt wurden. Zu dem reichen Schaffen Telemanns gehörten auch die jährlichen Passionsvertonungen nach einem der Evangelisten, die sich aufgrund einer ins 17. Jahrhundert zurückreichenden Tradition an der neutestamentarischen Reihenfolge Matthäus, Markus, Lukas und Johannes orientierten. Diese Passionen waren Bestandteil der regulären Gottesdienste, die Musik durfte deshalb die Länge von einer Stunde auch nicht wesentlich überschreiten.
Im Jahr 1772 war es nun Carl Philipp Emanuel Bachs Aufgabe, eine Passion nach Johannes zu komponieren. Dabei griff er wie schon sein Vater auf parodistische Verfahren zurück und nutzte für diese Johannespassion schon verwendete Kompositionen eigener und fremder Hand. Es handelt sich also um ein Passions-Pasticcio. Als Modell diente Bach dabei die Johannespassion von Telemann aus dem Jahr 1745. Neben Musik von Telemann verwendete Bach auch Musik von Gottfried Heinrich Stölzel: vier Arien und Duette, die 1749 entstanden waren. Zudem bediente sich der Komponist auch bei seinem Vater: Den Schluss des Werks gestaltet er nach dem Vorbild der Johannespassion als großen Chorsatz. Gesichert scheint heute, dass Carl Philipp Emanuel Bach die Arien Verkennet ihn nicht und So freiwillig, ohne Klage für diese Passion selbst komponiert hat. Gerade So freiwillig, ohne Klage zeigt Bachs musikalischen Weg, der schon die Empfindsamkeit antizipiert.
Dennoch wirkt diese Johannespassion insgesamt recht homogen. Was sich auch bei dem klanglich gut gelungenen Livemitschnitt aus dem Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie aus dem Jahr 2003 nachvollziehen lässt. Joshard Daus hat das Barockorchester Capriccio Basel, das Zelter Ensemble der Sing-Akademie zu Berlin sowie die Solisten bestens vorbereitet. Trotz manchmal etwas angestrengt klingender Höhe kann Elisabeth Scholls Sopran dabei ebenso überzeugen wie Alexandra Petersamer (Alt) und der Bass Jochen Kupfer. Gunnar Gudbjörnssons Tenor demonstriert seine Stärken vor allem im lebendig gestalteten Passionsbericht. Dazu kommt der sehr plastisch-differenziert agierende Chor der Berliner Singakademie. Das auf historischen Instrumenten musizierende Basler Barockorchester kann besonders mit seinen Bläsern überzeugen. So ist die Einspielung neben dem historischen Informationswert, der eine Praxis musikalischer Übernahme demonstriert, die zu Bachs Zeiten nicht als verwerflich galt, auch durch die Qualität des Musizierens zu empfehlen.
Walter Schneckenburger


