Kornemann, Matthias

Johannes Brahms

mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Ellert & Richter, Hamburg 2006
erschienen in: das Orchester 05/2007 , Seite 74

Die von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius herausgegebene Buchreihe „Hamburger Köpfe“ präsentiert wichtige Hamburger Persönlichkeiten. Solch ein Kopf ist auch Johannes Brahms. Der Komponist ist ein Kind der Stadt, auch wenn diese sein Schaffen auf den ersten Blick nicht wahrnehmbar geprägt hat. Viel eher scheint Brahms an seinen Sterbeort Wien zu passen, ja mit diesem verwachsen zu sein. Man vergisst leicht, dass Brahms bis zu seinem 30. Lebensjahr, lediglich von Reisen unterbrochen, in Hamburg lebte.
Der Musikwissenschaftler Matthias Kornemann, der Verfasser dieser Studie, dekonstruiert aufs Genaueste unser Brahms-Bild. Er erklärt die Tendenzen der bekannten Brahms-Biografien. Besonders die Intention des ersten großen Brahms-Biografen Max Kalbeck kann er konkret fassen. Er lässt auch nicht unerwähnt, dass Künstler wie Johannes Brahms oder Clara Schumann durch die gezielte Vernichtung von Dokumenten und Streuung von mündlich überlieferten, mehr oder wenig korrekten Anekdoten deutlich zu einem gesteuerten Bild ihrer Persönlichkeit beigetragen haben.
Auch wenn Kornemann die Frage nach historischer Wahrheit thematisiert, lösen kann und will er die Frage nach dem „wahren“ Brahms-Bild nicht. Seine Antwort ist letztendlich die lange schon erforderliche Infragestellung der „klassischen“ Biografik. Fast ermüdend, aber natürlich völlig political correct, kritisiert Kornemann Kalbecks „Heldenbiografie“ oder etwa Florence Mays Ekel über die proletarischen Wohnverhältnisse im Hamburg des 19. Jahrhunderts.
Kornemann balanciert auf einem sehr schmalen Grat, auf dem das Biografienschreiben nicht mehr, aber vielleicht auch wieder möglich ist. Er ist gezwungen, die von ihm sicher zu Recht als tendenziös verworfenen Biografen zu befragen und muss sich auch auf sie berufen, um überhaupt zu einer gewissen Erzählstruktur zu gelangen. Immer in Blickweite der großen Biografien, die ihm wie Mühlsteine um den Hals hängen, bleibt Kornemann sehr geschichtsgerecht. Er schafft aber keine wärmende Atmosphäre um den schmalen Knaben, der sich wie ein Mädchen in eine prinzessinnenhafte Idee verträumt hatte, dass eines Tages sein Genie erkannt wird und er erlöst und erhöht wird.
Eine emotionale Annäherung an einen großen Hamburger Komponisten sucht man in Kornemanns Brahms-Buch vergeblich. Doch Spannung bleibt auch bei Kornemann nicht aus, der übrigens ein exquisit hohes, nie verwissenschaftlichtes Sprachniveau hält. Der Knackpunkt der Brahms’schen Karriere, seine Begegnung mit der Familie Schumann, gerät zu einem Kriminalstück, das – vielleicht muss man sagen: glücklicherweise – nicht aufgelöst wird. Kornemann zeigt Fakten auf und signalisiert: Lieber Leser, such dir selbst den Schluss. Das ist sehr geschickt, wenn auch etwas tendenziös zu Lasten Clara Schumanns eingefädelt und wird wieder aufgelöst, indem der Held wieder in den grauen Hamburger Alltag entlassen wird.
So sehr sich Kornemann einer klassischen biografischen Lebensbeschreibung verweigert, so nah kommt der junge Brahms dem Leser und so fremd bleibt er dem Leser, wie er wohl sich selbst auch über Strecken seines Lebens fremd gewesen ist. Dieses schmale Buch ist mit großem Gewinn zu lesen, auch wenn blutigen Brahms-Anfängern eher abzuraten ist. Lesern, die sich, in welcher Hinsicht auch immer, mit Musikerbiografien beschäftigen müssen, ist dieses Buch als exemplarische Auseinandersetzung mit Biografik unbedingt zu empfehlen.
Katharina Hofmann