Walter, Meinrad
Johann Sebastian Bach. Johannespassion
Eine musikalisch-theologische Einführung
Bachs Passionsmusiken werden seit der Wiedererweckung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn nicht nur in Kirchen, sondern auch in Konzertsälen aufgeführt. Mit dem Kauf der Karten geht der Konzertbesucher keine religiöse Bindung ein, es bleibt ihm überlassen, wie er sich zum Inhalt der Werke stellt. Dies gilt auch für die beteiligten Musiker. Dennoch ist die Tatsache nicht zu umgehen, dass es sich beim Libretto, anders als etwa bei einer Oper, um Glaubensaussagen handelt. Sowohl Aufführungen mit großen Chören und Orchestern als auch puristische Realisierungen, die sich auf Originalinstrumente und kleine Besetzungen beschränken, können am Inhalt vorbeigehen.
An diesem Punkt setzt Meinrad Walters musikalisch-theologische Einführung in die Johannespassion an. Das Buch des katholischen Theologen und Kirchenmusikers, der 1994 über Bachs geistliches Vokalwerk promovierte, kann mit seinem systematischen Aufbau und seiner Vollständigkeit als Standardwerk gelten. Es ist aber mehr: ob textliche, musikalische oder liturgische Zusammenhänge, man kann sich an jeder Stelle festlesen. In seinem Vorwort erwähnt Walter die Übermalungen alter Passionsbilder durch Arnulf Rainer: Ähnlich wie die musikalische Aufführungspraxis heute auch den verstörenden Momenten in Bachs Musik nicht ausweicht und seine Passionsmusik keineswegs nur in Wohlklang hüllt, attackiert Rainer geradezu die traditionellen Bilder und Vorstellungen vom Leiden Christi. Beispiele sind in den 16 Farbtafeln in der Mitte des Buchs zu finden. In ähnlichem Sinn zitiert Walter den Bach-Forscher Martin Geck, der die Orchestereinleitung mit ihren Dissonanzen als den Beginn ernsthafter Sinfonik betrachtet. Der von Walter ausführlich behandelte Eingangschor Herr, unser Herrscher ist beispielhaft für die Vieldimensionalität der Vertonung der Leidensgeschichte Jesu als musikalisches Kunstwerk (Kurt Marti). Musikgeschichtlich ist die Johannespassion als oratorische Passion einzuordnen, dem Gegenstück zum Passionsoratorium.
Auch mit der Dramatik des Evangelisten-Parts und der Turba-Chöre überschritt Bach die zeitüblichen Grenzen. Nach der ersten Aufführung 1724 in der Leipziger Kirche St. Nicolai folgte schon 1725 in St. Thomas eine zweite Fassung mit anderen Ecksätzen laut Walter das unbekannteste große Vokalwerk Bachs. Noch bei der Wiederaufnahme der ersten Fassung 1749 machte Bach einige wenn auch nur textliche Zugeständnisse aufgrund der Kritik, das Werk sei zu theatralisch.
In einem kurzen Exkurs geht Walter auf den Antijudaismus des Evangelientextes ein. Schon das Ersetzen der Verallgemeinerung die Juden durch das originalsprachliche die Jüden kann einer Überbewertung entgegenwirken. Von hohem Informationswert ist der umfangreiche Anhang mit Chronologie und Glossar. Ein mit großer Sorgfalt ediertes, für Interpretation wie Rezeption wichtiges Buch.
Reinhard Seiffert


