Steinbeck, Anke
Jenseits vom Mythos Maestro
Dirigentinnen für das 21. Jahrhundert
Opernsängerinnen sind seit Jahrhunderten eine Selbstverständlichkeit, in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Frauen Fagott, Horn, Kontrabass und Pauken erobert, die Zahl der durchaus erfolgreichen Komponistinnen wächst ebenfalls. Bleibt also das Dirigieren als letzte Männer-Bastion? 2008 waren von 133 Chefposten in deutschen Orchestern gerade mal drei mit Dirigentinnen besetzt.
Was müsste an gesellschaftlicher Entwicklung getan (oder abgewartet) werden, damit Dirigentinnen genau so selbstverständlich werden wie Dirigenten? Dieser Punkt wäre genau in demselben Moment erreicht, in dem die Existenz des Dirigenten insgesamt obsolet und überflüssig geworden wäre, das Bild der Macht seinen Zauber und seine Funktion verloren hätte. Diese Äußerung von Hans-Klaus Jungheinrich (1986) zeigt exemplarisch, wie eng der Mythos Maestro traditionell mit Durchsetzungskraft, Führungsstärke und männlichen Konnotationen verbunden ist. In Zeiten der Auflösung dieses Mythos, in einem Strukturwandel, der von kommunikativem Führungsstil, von Beispielen selbstorganisierter und basisdemokratisch verfasster Orchester und von einer Vielzahl alternativer und beweglicher Ensembles und Präsentationen geprägt ist, liegt es nahe, über
das Berufsbild und damit auch über die Entfaltungsmöglichkeiten von Dirigentinnen neu nachzudenken.
Anke Steinbeck tut es auf eine sehr umfassende Weise. Sie untersucht Ausbildungsbedingungen, Förderinstrumente, Wettbewerbe, den Einfluss von Agenturen, Management und Publikum und die (immer noch problematische) Darstellung von Dirigentinnen in den Medien. Das Vordringen von Frauen in ehemals monogam geprägte Räume wie Militär, Hochleistungssport und Wirtschaftsmanagement wird zum Vergleich herangezogen, und auch sozialwissenschaftliche Theorien zur Ungleichbehandlung von Frauen in gegengeschlechtlich aufgebauten Organisationen sind für die Thematik aufschlussreich. In einer empirischen Untersuchung hat die Verfasserin Meinungen von Orchestermusikerinnen und -musikern zur Akzeptanz von Dirigentinnen erhoben, wobei 75,7 Prozent der Befragten der Meinung waren, dass das Geschlecht keine Rolle spiele, während immerhin 14,1 Prozent darunter auch Musikerinnen angaben, sie spielten bevorzugt unter der Leitung eines Dirigenten.
Zusammen mit den im Anhang abgedruckten Gesprächen mit Dirigentinnen und Vertreterinnen und Vertretern des Managements ist ein sehr lesenswertes Buch entstanden, das Polarisierungen vermeidet und
mit dem Thema vielschichtig und differenziert umgeht. In vielen Statements bekommt man den Eindruck, dass das Orchesterdirigieren tatsächlich für Musikerinnen die härteste Bastion ist, die es noch zu erstürmen gilt. Die Bestandsaufnahme von Anke Steinbeck gibt aber Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
Der historische Teil, der die Arbeit einleitet, ist leider sehr fehlerhaft. Hier bewegt sich die Autorin offensichtlich auf fremdem Terrain, und man kann nur empfehlen, dieses Kapitel zu überblättern.
Freia Hoffmann