Sandner, Wolfgang (Hg.)
Jazz
Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 9
Nicht enzyklopädische Vollständigkeit will ein Handbuch bieten, sondern Erklärungen zu allen wichtigen Aspekten seines Gegenstands und Hinweise auch auf periphere Phänomene. In diesem Sinne überzeugt der von Wolfgang Sandner herausgegebene Band 9 des Handbuchs der Musik im 20. Jahrhundert nahezu uneingeschränkt. Das Buch behandelt die verschiedenen Ausdrucksformen des Jazz, die kulturellen Kontroversen, die er auslöste, und die Missverständnisse, denen seine Rezeption unterlag, vor allem aber seine vitalen Interpreten. Der Klappentext benennt nüchtern, worüber auf 360 Seiten und gegliedert nach acht thematischen Teilaspekten dann genauso kenntnisreich wie passioniert Auskunft gegeben wird. Dass neben Wissenschaftlern auch aktive Jazzer als Autoren für die einzelnen Kapitel verantwortlich zeichnen (sie spielen eben selbst, wovon sie schreiben!), garantiert
gerade hier gegenstandsgerechte Aufarbeitung. Vor allem aber belegt die Neuerscheinung (zusammen mit den Nachbarbänden über Musical bzw. Rock- und Popmusik) einen veränderten Stellenwert, den musikwissenschaftliche Forschung zentralen Musikformen der neueren Musikgeschichte endlich (!) zuzugestehen bereit ist.
Ausgesprochen fundiert und fundierend liest sich zunächst ein Historischer Überblick über die Geschichte der Stile (Kap.1, inklusive Hinweisen zu Musikbeispielen). Von dessen Autor Wolfgang Knauer stammt auch das wichtige Schluss-Kapitel Jazz-Analyse, in dem verschiedene Ansätze in der analytischen Beschäftigung mit Jazz als Voraussetzung für eine Entwicklung hin zur Jazz-Wissenschaft (jazz research) gewertet werden. Neben Kapiteln, die über die äußeren Konditionen des Jazz und seiner Verbreitung informieren (Produktionsbedingungen, Organisationsformen) und dem Kapitel Der Jazz und die Künste (Sandner), das den Einfluss des Jazz auf Tanz, Bildende Kunst, Fotografie, Film und neue Musik schlaglichtartig verdeutlicht, sind zwei Kapitel besonders hervorzuheben: Peter Kemper stellt in Kapitel 6 unter Berücksichtigung vor allem sozialpsychologischer und rezeptionsästhetischer Kriterien wesentliche Bausteine einer sozialen Ästhetik des Jazz zusammen. Der Stichwort-Bogen spannt sich von Adornos Jazzkritik bis zur Frage nach dem Verhältnis von rationaler Planung und emotionaler Spontaneität im Jazz.
Der lesenswerte Beitrag zur Aufführungspraxis historischer Jazzstile (Kap. 3, Reimer von Essen) macht schließlich auf der Grundlage ausführlicher stilistischer Analysen deutlich, dass sich in der Wertung von altem Jazz als einer hemdsärmlig-gemütlichen Stilart (statt der Deutung als hoffnungsfrohe Überwindung von trauriger Erfahrung und Schmerz) ein kulturelles Missverständnis spiegelt. Wenn auch der Duktus der Darstellung hier nicht rein wissenschaftlich ist (Autoren-Ich !) der engagierte Ton dieses Plädoyers wiegt das ganz unmittelbar auf.
Kaum ädaquat erscheinen allerdings Konzeption und Ausführung von Kapitel 2 zu den Stilelementen (Jürgen Schwab). Denn die Auskünfte bleiben dort zu spärlich bzw. nichtssagend. Substanzielle Momente wie Gesang/Stimme im Jazz und Tongebung bzw. Phrasierung sind jeweils lediglich auf einer halben Seite behandelt. Nachgerade eklatant wird solche Verknappung bezüglich des rhythmischen Phänomens Synkope, gepaart mit allzu floskelhaften Formulierungen wie: Die Synkope ist im Jazz von Bedeutung.
Zwar enthält der Anhang dann noch eine hilfreiche Zusammenstellung von Forschungszentren und Archiven zum Jazz. Doch angesichts des Faktums, dass Jazz immer mündlich tradiert wurde und sein historisches Vermächtnis viel eher als in Bibliotheken und Archiven in Discographien zu finden ist (Klappentext), fragt man sich als jazzinteressierter Leser zuletzt verwundert und auch ein bisschen enttäuscht: Warum eigentlich hält sich das Handbuch mit Hinweisen auf verdeutlichende Klangdokumente so auffällig zurück? Schließlich kommt Tonaufnahmen in der Beschäftigung mit Jazz(Geschichte) der Rang von Primärquellen zu. Gerade diese spezifische Kondition wissenschaftlichen Umgangs mit Jazz hätte das Handbuch denn doch noch selbstbewusster betonen müssen.
Gunther Diehl