Wolfgang Rihm
Jagden und Formen für Orchester. Zustand 2008
Ensemble Modern, Ltg. Sir George Benjamin.
Jagden und Formen? Moment, das hatten wir doch schon einmal! Und zwar in das Orchester 10/2022, auf Seite 70. Und wozu das Ganze jetzt noch einmal? Ganz einfach, weil es sich hier um die 2008 entstandene kammermusikalische Vorstufe zur Orchesterfassung handelt, die ein vollkommen eigenständiges Werk darstellt. Gewissermaßen die Umkehrung der Chronologie … Es ist die für Wolfgang Rihm typische Denkweise, wenn er verrät: „Als Komponist forme ich Übergänge von hier nach dort […] Hier, das nenne ich Anfang, und dort, das nenne ich Ende. Aber das ‚dort‘ ist auch ein Anfang und das ‚hier‘ auch ein Ende. Daran schließt sich der weitere Fluss an.“ Eine konsequent zyklische Denkweise!
Schon bei dem 2008er Urzustand verzichtet Rihm in den 16 Teilstücken auf die klassischen Satzbezeichnungen, die auf der vorliegenden CD schlicht als „Tracks“ markiert sind (die seinerzeit besprochene Orchesterfassung ist auf der CD einfach nur durchnummeriert, ohne die Vokabel „Track“ zu gebrauchen).
Auch wenn die von dem spanischen Fotografen Xavi Bou erstellten Grafiken im Beiheft bzw. auf der CD selbst mit ihren haarfeinen „Pinselstrichen“ die Abstraktion eines Jagdhunds (eines Wilds?) suggerieren möchten (Bou selbst nennt es „Ornithographisches“, mit dem er die Flugbahnen von Vögeln sichtbar zu machen versucht), ist Rihm auch hier wieder weit entfernt davon, ein musikalisches „Programm“ abzuliefern. Gleichwohl: Die haarig wirkenden Illustrationen des Booklets passen sozusagen haargenau zu Rihms Musik, und man fragt sich, ob sie beim Hören dieser Musik entstanden sind. Der erste „Satz“ (wenn man ihn so nennen darf) kommt geradezu folkloristisch-tänzerisch daher: vielleicht ein freudiger Springtanz, mit dem der Komponist sich selbst zu seinem 70. Geburtstag gratulieren wollte?
Zu den 18 Menschen, die das Ensemble Modern bilden, ist kaum mehr zu sagen, als dass sie Rihms Komposition(en) ebenso adäquat wie begeistert in Klänge umsetzen – wie dieses basisdemokratisch organisierte Team, so das Beiheft, ja auch den Anspruch erhebt, „die größtmögliche Präzision in der Umsetzung der kompositorischen Ideen“ aufzubieten. Das Beiheft ist vorbildlich gestaltet und verfasst; neben der Werkbeschreibung, die sich auf Rihms eigene Äußerungen gründet, einigen Notenbeispielen und handschriftlichen Wiedergabeanweisungen des Komponisten enthält es auch ein aufschlussreiches Gespräch des Ensemble Modern mit Wolfgang Rihm anlässlich seines 70. Geburtstags. Darin findet sich unter anderem der beherzigenswerte Ratschlag Rihms an alle Musiker:innen, „ihre Ideen so unmissverständlich wie möglich zu artikulieren. Dabei sollte jeder ästhetischeAnsatz in seiner Eigenart möglich sein. Also so wenig wie möglich: ‚Das macht man heute so!‘“
Friedemann Kluge