Larcher, Thomas

IXXU

2. Streichquartett (1998-2004), Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: das Orchester 02/2013 , Seite 65

Thomas Larcher ist als Komponist, Pianist und Festivalmacher in seiner Heimat Österreich schon so etwas wie eine Institution zeitgenössischer Musik. Seiner kompositorischen Energie hat das nicht geschadet.
IXXU ist das zweite von inzwischen drei Streichquartetten Larchers und Ausdruck einer künstlerischen Umbruchphase, entstanden in mehreren Anläufen zwischen 1998 und 2004, ein Komponist im Ringen mit der eigenen Sprache: „Während des Komponierens von IXXU musste ich immer wieder gegen das Gefangensein in meiner eigenen Kompositionsweise anrennen, musste versuchen, mich davon loszureißen … und konnte letztlich doch keinen Ausweg finden. […] Trotzdem oder gerade deshalb ist IXXU zu meinem signifikantesten und intensivsten Stück aus dieser Zeit geworden.“
In der Tat ist das fünfsätzige, ca. 15-minütige Werk ein Ausbund an Unruhe und Rastlosigkeit, eine Musik auf der Flucht vor sich selbst. Der knappe Kopfsatz gibt die Marschrichtung vor: flüchtig, nervös exponiert er die grundlegenden Elemente des Quartetts. Wie wichtig Larcher klangfarbliche Differenzierung durch permanente Wechsel von Artikulation und Spieltechnik ist, zeigt schon das erste chromatische Klangband der 1. Violine, dessen rasende 32tel-Bewegung auf engstem Raum zwischen sul ponticello und sul tasto, ppp und p stufenlos changieren soll. Diese Anweisung spricht Bände: kein klanglicher Zustand im Kopfsatz, der sich länger als zwei, drei Takte verfestigen kann, auch nicht kurze melodische Bögen der 1. Violine und Bratsche, die so unvermittelt verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Ein auch metrisch bewusst offen gehaltener Bezug der Stimmen garantiert einen Zustand der Schwerelosigkeit, in dem alles nur angedeutet, aber nicht ausgesprochen wird.
Sehr schnell, präzise (Viertel=134) rast auch der gewichtige zweite Satz dahin, beherrscht von wilder Motorik und schroffen Klangfarben in bester Bartók-Tradition. Weitestgehend homofon spult sich eine unaufhaltsame 16tel-Maschinerie in asymmetrisch zerhackten Rhythmen ab, die immer wieder von unvermittelt einbrechenden Dreiklängen ausgebremst wird. Sul punticello- und sul tasto-Spiel zeichnen auch hier verantwortlich für die ätzend-quecksilberne oder stumpf-verwaschene Farbigkeit, die für das gesamte Quartett konstitutiv ist. In den Takten 90-100 erreicht das Lärmpotenzial der dissonanzgesättigten Klangbänder seinen Höhepunkt in höchsten Lagen im fff, die nur noch infernalische Geräusche in extremen Frequenzen produzieren.
Ein kurzzeitiges Atemholen gewährt der dritte Satz, ein ruhiges Adagio mit choralartigem Habitus, dessen tonale, spätromantische Allusionen unverkennbar sind (und gelegentlich Arvo Pärt heraufzubeschwören scheinen). Presto subito bringt der vierte Satz eine verkürzte Rekapitulation des zweiten, im Ton noch rauer, rhythmisch noch chaotischer. Mit fahlen Terz-Gängen verabschiedet sich dieses kompositorische Anrennen gegen sich selbst, ein unwirklich entspanntes Ende, das weniger Schlusssatz denn lapidarer Epilog ist. Der endet in simplem Dis-Dur, der heimlichen „Grundtonart“ des Quartetts.
Dirk Wieschollek