Jung-Kaiser, Ute (Hg.)
Intime Textkörper
Der Liebesbrief in den Künsten
Die Sublimierung des Persönlichsten sei es Liebe, seien es Triebe durch Kunst impliziert dessen Wendung nicht nur ins Öffentliche, sondern auch ins Allgemeingültige. Bei der Aneignung derartiger Kunstwerke mag man Eigenes im Fremden entdecken, mag das Gemeinsame, Geteilte vielleicht Freude, Trost, Befreiung: Katharsis bewirken.
Der opulent mit umfangreichen Notenbeispielen, Schwarzweiß- und zahlreichen Farbtafeln ausgestattete Band dokumentiert das 3. Interdisziplinäre Symposion an der Frankfurter Musikhochschule 2003, das solchen künstlerischen, vom Persönlichen aufs Ideale zielenden Gestaltungen des wohl intimsten Kommunikationsmittels, des Liebesbriefs (für einen der Autoren, Bernhard Kytzler, ist er ein artistisch abstrahierter bravourös beschworener Brunstschrei, ein stilisiertes Stöhnen) gewidmet war. Er zeigt aufschlussreiche Wege zur Interpretation und damit Perspektiven für die individuell Gewinn bringende Aneignung der Werke.
Komponieren auf Veranlassung künstlerisch verfasster intimer Textkörper erscheint als eine Facette vieler möglicher ästhetischer Praxen, bei denen Subjekte sich in doppelter, dialektischer Hinsicht sowohl mit Blick auf den Text als auch auf die Musik im Horizont des Allgemeinen als Persönlichkeiten einbringen und darstellen. Die Vorgänge eines derart musikproduzierenden Lesens und einer diese Produktion rekapitulierenden lesenden und hörenden Interpretation werden exemplarisch im Beitrag Hans-Joachim Kreutzers über Schubert und der Orient deutlich, in dem die vier Gesänge Schuberts nach Gedichten aus dem Westöstlichen Divan Goethes untersucht werden. Umgekehrt zeigt der Beitrag von Michael Kohlhäufl und Michael Kube zu verschiedenen Vertonungen des Goethe-Gedichts Die Liebende schreibt die Vielfalt möglicher Perspektiven gerade für einen derart aufs Intime gerichteten Text. Hier zeigt sich wie auch besonders eindringlich in der akribischen Arbeit Kadja Grönkes zur Briefszene der Tatjana in Tschaikowskys Eugen Onegin , wie und in welchen Hinsichten bei der Vertonung von Liebesbriefen das Spannungsfeld von Konvention und Individualität als Bedingung dafür fungiert, dass Gefühle im Spiel mit Regelwerk und Abweichung im künstlerisch gestalteten Text und im entsprechenden musikalischen Verlauf hervorgebracht werden können.
Mit Kompositionen als klingenden Liebesbriefen befassen sich Luitgard Schader (über Hindemith) und ein Podiumsgespräch zwischen Ute Jung-Kaiser, Herbert Buchberger und dem Saga-Quartett (über Janác¡ek), das verdeutlicht, wie Kenntnisse der biografischen Hintergründe eines Werks dessen künstlerisch-praktische Gestaltung im Rahmen einer Aufführung beeinflussen.
Nicht auf alle der 19 Beiträge von denen jeder auf seine Weise gelungen und lesenswert ist kann hier eingegangen werden. Erwähnt seien jedoch noch die Beiträge der Herausgeberin: Bei der Interpretation des Mozart-Liedes Als Luise die Briefe ihres ungetreuen Liebhabers verbrannte gelingt es ihr, ungemein kenntnis- und perspektivenreich den Blick auf eine beeindruckende Fülle von Bedeutungsaspekten zu lenken; vier weitere, kleinere Beiträge runden zusammen mit einem Register und einem Autorenverzeichnis den Band inhaltlich und formal ab quasi zu einem Liebesbrief der Herausgeberin an ihr Thema, an die Mitwirkenden und nicht zuletzt an ihre Leser. Dem Rezensenten ermöglichte die Lektüre eine erfüllte Zeit der Muße eine bildsame Zeit! und sie öffnete eine neue Einsicht: dass der Liebesbrief im Leben wie in den Künsten durch das Spannungsfeld von absichtsvoll gestaltetem Material und unaussprechlichem Gefühl paradigmatisch für die Genesis und Geltung dessen ist, was wir Kultur nennen.
Peter W. Schatt