Internationale Ferienkurse für Neue Musik 2002 Darmstadt
Werke von Sebastian Claren, Nam-kuk Kim, Salvatore Sciarrino, Gerhard Müller-Hornbach und Caspar Johannes Walter
Nach dem Zweiten Weltkrieg bedeuteten die Internationalen Ferienkurse Darmstadt für die junge Komponistengeneration viel, sodass man schier den emphatischen Begriff Heimat ins Spiel bringen möchte. Hier trafen Emigranten auf jene, die in der inneren Emigration überwintert hatten. Und es kamen die Jungen, um hier mit ihrer Vätergeneration den Diskurs aufzunehmen. Darmstadt wurde zum Forum, von dem Ulrich Dibelius einmal sagte, hier hätten sich die Interessensphären von Lehre, Diskussion und Konzertaufführung, von Komponisten, Interpreten und Hörern wechselseitig sinnvoll durchdrungen. So war Darmstadt immer zugleich Spiegel aktueller Entwicklungen und Impulsgeber. Nicht zuletzt aber war Darmstadt lange Zeit die Hochburg kompositionstechnischer Ideologien. Trotz zum Teil auch kleinlicher Grabenkämpfe blieb das avantgardistische Biotop Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik vitale Heimat.
Dies dokumentiert die vorliegende CD mit Werken, die im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse 2002 aufgeführt wurden. After Blinky Palermo (2001/02) für Violoncello und Orchester hat Sebastian Claren als Hommage an den Beuys-Schüler Blinky Palermo komponiert. Bezugspunkt sind fünf der fünfzehn Farbgruppentafeln der Bildinstallation To the People of New York City. Claren berichtet von der Faszination, die von diesem äußerst reduzierten und gleichzeitig persönlich sehr anrührenden Kompositium Palermos ausgeht und übersetzt dies in eine komplexe Studie über einen Orchestersound irgendwo schwebend zwischen synthetischer Reinheit und Klängen, die mit hohem artifiziellem Aufwand vorgeben Teil der Natur zu sein. Das Radio-Sinfonie-Orchester unter der Leitung von Peter Rundel und Lucas Fels (Cello) spielen dieses geklitterte Artefakt in seiner ganzen zerfahrenen und dann auch wieder bemerkenswert homogenen Schönheit.
Eine Klang-Meditation ganz anderer Art ist Fwa-Du (Das Koan) aus dem Jahr 2002 des Koreaners Nam-kuk Kim. Er sucht die formlose Form. Fwa-Du hat er mit schweifendem Ohr komponiert. Die Musik beginnt und endet, ohne sich im Mindesten auf europäisch kultiviertes Zeitempfinden einzulassen. Radikal reduzierte perkussive Impulse werden von zarten Melisma-Fragmenten der Klarinette oder kaum hörbaren Klangbändern des traditionellen koreanischen Streichinstruments Ajaeng beantwortet.
Die Due Notturni crudeli von Salvatore Sciarrino loten das beängstigend glitzernde Obertonmaterial aus, das frei wird, bei extrem angeschlagenen Akkordfolgen. Innere Spuren (2002) von Gerhard Müller-Hornbach generiert nach dem Gesetz organischer Prozesse Klangspektren, deren Materialien aus dem Arsenal der französischen Spektralisten stammen, von Müller-Hornbach aber in einen Kontext eingebunden werden, der weit entfernt vom reinen Ästhetizismus die theatralische Wirkung sucht.
Angst und Ahnung für Frauenstimme, Trompete und Streicherensemble von Caspar Johannes Walter ist einerseits hochkalkuliertes Spiel mit Obertonproportionen, andererseits ist die Instrumentation so stark aus dem Gefühl heraus angelegt, dass diese Musik eine Aura entwickelt, die dem Titel mehr als nur entspricht.
Fazit: Die Zeit der reinen kompositorischen Rechenexempel scheint vorbei. Die Musik kehrt mit modernen Mitteln zurück zu ihren rituellen und theatralischen Ursprüngen.
Annette Eckerle