Miaskovsky, Nikolai
Intégrale des Symphonies
Er war für sie ein Ort der Triumphe: der Große Saal des Moskauer Tschaikowsky-Konservatoriums. Jewgeni Swetlanow (1928-2002) wurde hier als Dirigent des Staatlichen Sinfonieorchesters der Russischen Föderation und des Sinfonieorchesters der UdSSR ebenso gefeiert wie für seine legendären Programme. Und hier sind alle 27 Sinfonien von Nikolai Mjaskowski (1881-1950) erklungen viele zum ersten Mal.
Nun setzt die 35. Veröffentlichung der großartigen Swetlanow-Edition beiden Künstlern ein Denkmal. Dem Dirigenten, der Mjaskowski wieder zu Ehren brachte. Und dem Komponisten, der den Brückenschlag von Glinka, Tschaikowsky und Rimsky-Korsakow hin zu Kabalewsky, Schostakowitsch und Chatschaturjan vollzog, der in den 1920er Jahren zum bedeutendsten sowjetischen Sinfoniker heranwuchs und der auch in Europa und in den USA viel Anerkennung fand.
Seine sinfonischen Dichtungen “Das Schweigen” und “Alastor” und die ersten Sinfonien sind zutiefst pessimistische Werke, geprägt von Selbstzweifel und Sinnsuche. Aber die Erste (1908) zeigt auch schon alle grundlegenden Elemente von Mjaskowskis Tonsprache und Musikdenken: breit strömende Themen, kunstvolle Varianten und polyfone Verflechtungen, eindringliche lyrische Bilder, reiches Orchesterkolorit, Folklore-Einflüsse und die epische Dramaturgie. Moll-Tonarten dominieren. Die Zahl der Sätze reicht von einem bis zu fünf. Suite und Ballade fließen ein.
Nicht jedes Werk wird zum Höhenflug, doch viele erscheinen als Gipfelpunkte in einer Musikkultur und einem Kunstverständnis, die der Tradition und dem Hörer zugewandt sind. Den düsteren Vorgängerinnen folgt die hellere Fünfte (1918) als erste Dur-Sinfonie. Internationale Aufmerksamkeit finden die monumentale 6. Sinfonie (1922), die französische Revolutionslieder, das Dies irae und einen Chor verwendet, und die episch-dramatische 8. (1925). Die stählerne 10. Sinfonie (1927) bezieht sich auf Puschkins Poem “Der eherne Reiter” und ähnelt in ihren Klangbildern Mossolows Eisenwalzwerk. Und nach der demokratisierten Sprache seiner 12. Sinfonie (1932) kehrt der Komponist mit der 16. (1934) zu philosophischer Tiefe und tragischen Tönen zurück Freund Prokofjew lobte sie als wirklich große Kunst. Die 19. Sinfonie (1939) entstand für Blasorchester. Die 21. Sinfonie (1940) wurde als Lyrisches Poem berühmt. Die schwermütige Erzählung der 25. Sinfonie (1946) überrascht durch ihren visionären Schluss. Und die 27. Sinfonie (1949) erklang postum. Mjaskowski, der wie viele Künstler 1948 als Formalist geschmäht wurde, zieht bewegt von Fragen des Lebens und des Todes sein Resümee: mit leidvoller Dramatik, berückender Schönheit und kraftvoller Zuversicht.
Ab 1963 hat Swetlanow die Sinfonien und Orchesterwerke im Moskauer Konservatorium aufgenommen und sich dabei als überaus kundiger, engagierter Interpret der Musik Mjaskowskis erwiesen. Und wer seine sinfonische Dichtung “Le Sorbier rouge” kennt, weiß, wie eng er ihm auch als Komponist verbunden war.
Eberhard Kneipel