Ferneyhough, Brian

Incipits

für Solo-Viola, Schlagzeug und sechs Instrumente, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Peters, Frankfurt/Main 2002
erschienen in: das Orchester 12/2004 , Seite 85

Incipits ist das bislang letzte Stück einer Reihe, in der Brian Ferneyhough seit Ende der achtziger Jahre mit der Besetzung Solo-Instrument und Kammerensemble experimentiert hat. Vorausgegangen waren La Chute d’Icare (1988), Terrain (1992) und Allgebrah (1990-96). In diesen Kompositionen geht es weniger um einen Dialog im Sinne traditionellen Konzertierens, sondern vielmehr um den Versuch, das Prinzip des Aufeinanderprallens kontrastierenden Materials auf die klassische Konstellation Solo-Tutti zu übertragen.
Incipits (komponiert 1996 zum 90. Geburtstag von Paul Sacher) führt den Zyklus nun insofern konsequent zu Ende, als hier Solo-Viola und Ensemble nicht nur völlig unabhängig voneinander agieren, sondern die einzelnen Entwicklungen ihr Potenzial auch gar nicht mehr recht entfalten können, bevor sie von neuen Ereignissen bereits wieder verdrängt werden. Das Stück besteht quasi aus einer Aneinanderreihung sich überlagernder Neuanfänge. Ferneyhough schreibt dazu: „Man sagt, dass es viele Möglichkeiten gibt, eine Komposition zu beginnen, allerdings wenige, ein Werk zu beenden. In diesem Sinne habe ich ‚Incipits‘ komponiert; meist besteht es aus Anfängen, da jeder der sieben Abschnitte neue Antworten fordert, oft bevor das vorangegangene Material ausgearbeitet wurde.“
Die siebenteilige Anlage ist durch die Instrumentation klar umrissen: Viermal verbindet sich die Solo-Viola mit einer obligaten Schlagzeug-Partie zu einem aparten Duo (nacheinander werden Holzblocks, Marimba, Tambourins und ein Regenmacher verwendet), dreimal treten eigenständige Tutti-Abschnitte dagegen. Diese sind ebenfalls durch ihre Besetzung scharf charakterisiert: erst unmerklich sich einschleichend (mit zwei Violinen, Cello und Bass), dann schroff dazwischenfahrend (mit Piccolo und Es-Klarinette), schließlich unwirklich und bizarr (mit Bassflöte und Bassklarinette).
Die Partitur zeigt ansonsten das gewohnte Bild (und Problem) einer Ferneyhough’schen Komposition: Die spieltechnischen Anforderungen gehen weit über das Menschenmögliche hinaus. Allein die rhythmische Struktur mit ihrer vielfältigen Übereinanderschichtung irrationaler Werte gleicht eher einem mathematischen Algorithmus als einer musikalischen Notation. Komplexeste Taktwechsel und Metronomangaben (wie „Achtel = 42,66“), dynamische Differenzierungen in Sekundenbruchteilen und eine unüberschaubare Anzahl unterschiedlichster Spielanweisungen lassen es fraglich erscheinen, ob auch nur ein Parameter allein wenigstens annäherungsweise korrekt ausführbar ist. So kann jeder Versuch einer Aufführung zwangsläufig nur eine vage Idee des eigentlich Notierten vermitteln.
Ist man aber bereit, sich auf die Zumutungen der Partitur einzulassen, kippt die anscheinend fast manisch kalkulierte Struktur überraschend schnell in eine faszinierend ungezügelte, scheinbar wild wuchernde Unmittelbarkeit um. Kontrolle des Materials und klangliche Transzendenz sind bei Ferneyhough auf bemerkenswerte Weise zwei Seiten der gleichen Medaille.
Joachim Schwarz

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support