Andrea Lorenzo Scartazzini/Gustav Mahler
Incantesimo/Sinfonie Nr. 4 in G-Dur Einklang/Sinfonie Nr. 5 in cis-Moll
Lina Johnson (Sopran), Jenaer Philharmonie, Ltg. Simon Gaudenz
Joana Mallwitz verabschiedete sich Ende April mit Gustav Mahlers vierter Symphonie am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg von ihrem Konzertpublikum in der Meistersingerhalle. Daniele Gatti kombinierte mit dem Gustav Mahler Jugendorchester das halbstündige Fragment der zehnten mit der ersten Sinfonie. Und im Gewandhaus zu Leipzig paradierten beim zweiten Gustav Mahler Festival im Mai 2023 mehrere Spitzenorchester. Spuren hinterließ Mahlers kompositorisches Vermächtnis bei Luciano Berio, Hans Werner Henze und anderen. An Popularität, Bewunderung, Einfluss also kein Mangel.
Desto beglückender sticht in diesem Breitensortiment das Projekt der Jenaer Philharmonie heraus. Mit der vierten Sinfonie setzte sie im April 2022 nach zweijähriger Corona-Zwangspause ihren Mahler-Scartazzini-Zyk-
lus fort. Seit der Spielzeit 2018/19 komponiert der Schweizer Andrea Lorenzo Scartazzini für jede Aufführung einer Mahler-Sinfonie im Jenaer Volkshaus ein mehrminütiges „Zusatzstück“. Nach Ende des Zyklus können diese als mehrsätziges Opus oder einzeln, auch losgelöst von Mahler erklingen. Scartazzini – in Deutschland vor allem bekannt durch seine Oper Edward II. für die Deutsche Oper Berlin – erklärt, er habe noch nie so tonal komponiert wie hier. Intensität bei respektvoller Distinktion und die Freude am Modellieren von Farben zeichnen Scartazzinis Mahler-Supplements aus. Als Prolog zur vierten Sinfonie und komplementär zu deren Finalsatz mit dem Wunderhorn-Lied Das himmlische Leben vertonte Scartazzini unter dem Titel Incantesimo (Verzauberung) Joseph von Eichendorffs Gedicht Abendständchen für Sopran-Solo. Sein Einklang zur fünften Sinfonie ist eine aus Streichern und Blech-Akzenten aufblühende Kantilene.
Eine Gegenwehr einerseits zum Klangfetischismus, andererseits zur interpretierenden Übermodellierung zeigt die Jenaer Philharmonie unter ihrem Chefdirigenten Simon Gaudenz mit einem sagenhaften Zugriff. Eine so musizierfreudige, pointensichere und satte Aufnahme dieser beiden Mahler-Sinfonien ist selten. Mit Ignoranz gegenüber deren Abgründen sollte man das allerdings nicht verwechseln. Man spürt den Schmerz, das Trügerische und die scharfen Zähne der Melancholie, obwohl die Lippen der Mahler’schen Partituren hier geschlossen sind und ihre Augen strahlen. In der vierten Sinfonie siegt ein fast manisches Brio über die Kontraste bei den Wechseln der Instrumentengruppen. Lina Johnsons hoher Sopran hat weniger paradiesisches Glitzern als schön mit dem Orchester verblendete Erdfarben. Der Schlusssatz gerät fast zur Collage aus leuchtenden Tonscherben,
Die Überbelichtung von Mahlers Volksmusik-Anleihen, die Lust am satten Glanz und das Versteckspiel mit seiner Melancholie mittels instrumentaler Vitaminspritzen zeichnen diese Einspielungen aus. Sie überzeugen als vitale Leuchttürme der Diskografie.
Roland Dippel