Gubaidulina, Sofia

In Tempus Praesens

Konzert für Violine und Orchester, Klavierauszug

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Sikorski, Hamburg 2010
erschienen in: das Orchester 05/2011 , Seite 72

Als Gidon Kremer 1980 in Wien Offertorium, das Violinkonzert einer im Westen bis dahin wenig bekannten tatarisch-russischen Komponistin mit Namen Sofia Gubaidulina, aus der Taufe hob, war die Sensation perfekt. Betroffen, staunend, überwältigt vernahmen die Zuhörer Klänge und Phrasen von unerhörter Ausdruckskraft, von geradezu bohrender Eindringlichkeit, komponiert von einer Frau, von der man selbst in Fachkreisen wenig wusste. Fast über Nacht katapultierte der Erfolg von Offertorium Sofia Gubaidulina zu Weltruhm. Seither ist jedes neue Werk von ihr, jede Uraufführung der Musikwelt ein Großereignis. Ihr Erfolg ist, erstaunlich genug, über alle Lagergrenzen hinweg völlig unumstritten. Der Grund könnte in der unerhörten Authentizität dieser zwingend persönlichen Klangsprache liegen, dieser seltsam eigensinnigen Mischung, in der sich zutiefst religiöse Grundüberzeugung bis hin zu Mystik und Zahlensymbolik, traumatische persönliche Erfahrung, Ängste, Trauer, Vision, Hoffnung in einer Intensität artikulieren, die einfach unter die Haut geht.
Nach Offertorium nun In Tempus Praesens. Ihr 2007 komponiertes 2. Violinkonzert widmete Sofia Gubaidulina Anne-Sophie Mutter, und in der Tat hat sie ihr das halbstündige Werk in mehr als einer Hinsicht förmlich auf den Leib geschrieben. Da ist zunächst die aus der Namensgleichheit Sofia/Sophie erwachsende Referenz an jene Heilige Sophia, die in der Orthodoxie Weisheit, Kreativität, das Wesen der Kunst schlechthin verkörpert, für die Komponistin nach eigenem Bekunden Quell der Inspira­tion. Da wä­re der in allen fünf attacca verbundenen Teilen vorherrschende deklamierende, expressiv-sprechende, oft sangliche Duktus, der auch in den lebhaften Abschnitten, in dissonanten Passagen, bei Glissandi und perkussiven Elementen (col legno-ricochet) stets und zutiefst einem Ideal ästhetisch-sinnlicher Schönheit verhaftet erscheint. Und da wäre die durch die ungewöhnliche Instrumentierung – große Bläserbesetzung inklusive Kontrafagott und Wagnertuben, Klavier, Celesta, Cembalo, zwei Harfen, aber keine Violinen! – noch verstärkte Dominanz der Sologeige, die sich immer wieder in höchste Höhen zu Helligkeit und Strahlkraft aufschwingt, während das Orchester meist die dunklen Farben und die tiefen Register dagegen setzt.
Dies ist keine Sinfonie mit obligater, im Orchester eingebetteter Solovioline, sondern ein Austausch, ja in Abschnitten eine Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektiv auf gleichberechtigten Ebenen. Atemberaubende Momente gibt es da, in denen sich die Spannung ins kaum mehr Erträgliche zu steigern scheint. Für mich besonders eindrucksvoll die Assoziationen eines Tribunals wachrufende Passage vor der großen Kadenz: Minutenlang fällt das Orchester unisono mit drei Akkordschlägen der Geige ins Wort, die sich verzweifelt gegen das ostinate Verdikt zur Wehr setzt. Die chromatisch-virtuose Schlusspassage der Solovioline verliert sich auf einem fis in höchsten Höhen, darunter ein orchestraler Schwebezustand zwischen D-Dur und d-Moll. Ein großartiges Werk für, trotz hohen geigerischen Anspruchs in keiner Note gegen die Violine! Die Notenausgabe ist sorgfältig und untadelig gestaltet, und Anne-Sophie Mutter selbst hat die geigerische Einrichtung des Soloparts übernommen.
Herwig Zack