Erhardt, Martin
Improvisation mit Ostinatobässen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert
Lehrmaterial zum Experimentieren in Unterricht, Ensemble und Selbststudium für alle Instrumente, mit CD
Historische Aufführungspraxis und Improvisation aus dem Augenblick heraus ein Widerspruch in sich? Das ist die erste Frage, die dieses Einführungs- und Übungsbuch sich stellt und die es klar beantwortet: kein Widerspruch. Vielmehr eine echte Notwendigkeit, will man Musik aus der Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert authentisch interpretieren; denn es besteht kein Zweifel, dass die Improvisation seinerzeit insbesondere in der weltlichen, aber auch in der geistlichen Musizierpraxis zu den häufig genutzten Standardfertigkeiten eines jeden Instrumentalisten oder Sängers gehörte. Fertigkeiten, die in der heutigen Musikerausbildung von der Musikschule bis zur Musikhochschule freilich kaum thematisiert werden und für deren Einsatz und Ausbau auch vielen klassisch ausgebildeten Berufsmusikern schlicht die Grundlagen fehlen.
Deshalb beginnt der Autor mit der Auflistung diverser auf Ostinatobässen gründender Kompositionsformen, deren Prinzip er anhand von Beispielen erklärt und die er im Hinblick auf stilistisch adäquate Improvisationsmöglichkeiten analysiert. Die Besonderheit ist, dass sich das Buch nicht an Solisten richtet (für die bereits diverse Werke ähnlichen Inhalts existieren), sondern dezidiert an Ensembles, deren Mitglieder sich einzeln oder gemeinsam mit dem Inhalt beschäftigen können. Dabei muss zwar
zumindest bei einem Ensemblemitglied ein gewisses Grundwissen in Harmonielehre und Musiktheorie vorausgesetzt werden, aber dennoch ist die Anleitung nicht allein für professionelle Musiker gedacht, sondern lässt sich gut auch für Amateuermusiker im Ensemble oder im Selbststudium und selbst für Schülergruppen (unter Anleitung des Lehrers) einsetzen.
Der zweite Teil des Buchs leitet dann konkret zu eigenen Improvisationen über Ostinatobässe an: Hier gibt es nicht nur ganz praktische Vorschläge, wie ein bestimmtes Bassmodell in den verschiedenen Stimmen
eines Ensembles variiert oder wie darüber improvisiert werden kann, sondern es werden auch verschiedene harmonische und melodische Improvisations- oder Diminutionsmodelle der Renaissance und des Barock vorgestellt. Da erfährt der Leser, wie man beispielsweise mit Klauseln, Kanons, Proportio sesquialtera, Akkordbrechungen oder Hemiolen eine Linie verändert und über sie improvisiert, aber auch, wie und was man über einem Bass an harmonischer Veränderung oder Bereicherung riskieren darf, ohne stilistisch aus dem Rahmen zu fallen oder seinen Mitspielern Probleme zu bereiten.
Ein Glossar am Ende des Buchs erläutert musiktheoretische Begriffe, die im Buch verwendet werden, und das abschließende, recht ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnis lädt zur eigenständigen Weiterbildung ein.
Eine hervorragende Idee ist die beiliegende Mitspiel-CD, auf der (mit Cembalo, Gambe und Schlagwerk nicht als MIDI-Files! und luxuriöserweise sogar einmal in 415, einmal in 440 Hertz!) Beispiele für die besprochenen Bassmodelle eingespielt sind, über denen der improvisationsfreudige Instrumentalist sein Können erproben und ausbauen kann. Na dann los!
Andrea Braun