Gagel, Reinhard

Improvisation als soziale Kunst

Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2010
erschienen in: das Orchester 04/2011 , Seite 63

In den klassischen Orchestern, den Paradebeispielen unserer traditionellen Musikkultur, steht vor dem Spielen das Planen, das Üben und das Proben. Alle Prozesse, bis in die kleinsten Bewegungen des Bogenarms oder der Mundmuskulatur, werden unter strenger Kontrolle perfektioniert, damit das Zusammenspiel der vielen Einzelkräfte funktionieren und harmonieren kann. Ganz anders ist es in der Improvisation, dem Spiel mit dem Unvorhergesehenen und Unerhörten. Dort kann es spontan gelingen, jenseits festgelegter musikalischer Idiome und nur aus dem hörenden Interagieren heraus, mit einem Ensemble sinnvolle und stimmige musikalische Strukturen zu erschaffen.
Diesem Phänomen des „freien Improvisierens“ widmet sich Reinhard Gagel in der auf seiner Dissertation basierenden und in der Reihe „üben & musizieren. texte zur instrumentalpädagogik“erschienenen Publikation Improvisation als soziale Kunst. Auf mehreren Ebenen geht er dabei das System Improvisation an. Eingangs benennt und beschreibt er das „Betriebssystem der Improvisation“ und die in ihr wirkenden Faktoren, bevor er sich sehr ausführlich, praxisorientiert und verschränkt mit methodischen Reflexionen den künstlerischen Prozessen widmet. Eine kleine Didaktik der Improvisation mit zahlreichen Überlegungen zu einem schöpferisch-experimentellen Musikunterricht wird zur Brücke zum Schlusskapitel, in dem Anwendungsmöglichkeiten für die Improvisation als soziale Kunst und Technik in gesellschaftlichen Zusammenhängen aufgezeigt werden.
Neun Thesen zur Improvisation bringen Gagels Überlegungen abschließend auf den Punkt: Improvisation ist nichts nebulös Mystisches; Musizieren als eine soziale Kunst, die unsere in manchen Aspekten erstarrte Musikkultur ergänzen und professionelle wie nichtprofessionelle Musiker erfüllen und bereichern kann, ist denk- und machbar. Nichts spricht dagegen, sich noch heute mit musikalischen Freunden für das Abenteuer Improvisation zu verabreden und zu beginnen!
Der Autor, der über jahrzehntelange praktische Erfahrung als Improvisator und Musikpädagoge verfügt – er leitet den Fachbereich Improvisation und Komposition an der Rheinischen Musikschule der Stadt Köln –, ist mit seiner Veröffentlichung ein exzellenter Begleiter auf dem Weg in diese spezielle Variante der musikalischen Freiheit. Ein Schwerpunkt liegt auf Ideen und Materialien für die Ensemblearbeit, die von einer vereinfachten Version des All Blues von Miles Davis über stimulierende Texte in der Tradition Schnebels oder Stockhausens bis hin zu Kalligrafien und musikalisch zu interpretierenden Grafiken reichen. Die theoretischen Anteile des Buchs sind nie Selbstzweck, sondern werden immer in einen direkten Bezug zur künstlerisch-pädagogischen Praxis gesetzt, das umfangreiche Literaturverzeichnis spannt einen weiten Bogen von Verweisen auf Adornos Ästhetische Theorie bis zu den klugen Texten Peter Niklas Wilsons.
Stephan Froleyks