Jean Sibelius

Impromptus für Klavier op. 5 Nr. 5 und 6

Bearbeitung für Streichorchester, Urtext, hg. Von Pekka Helasvuo und Tuija Wicklund

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaben
erschienen in: das Orchester 7-8/2024 , Seite 68

Ein Stoff wie aus einem Krimi: Da wird einem amerikanischen Musikwissenschaftler, der als Stipendiat 1957 und 1958 in Helsinki lebt, ein bisher noch unveröffentlichtes und unbekanntes Sibelius-Manuskript zum Kauf angeboten. Ihm gelingt es, eine Fotografie der ersten Seite anzufertigen und die Echtheit zu überprüfen: Positiv – das Manuskript ist von Jean Sibelius! Doch vor Ende der Aktion verschwindet das Manuskript, bis heute. Was bleibt, ist eine rätselhafte Geschichte und das Foto einer Seite. So spannend kann Musikforschung sein. Aber sonst ist die Entstehungsgeschichte der beiden Streicherbearbeitungen aus dem Klavierwerk Opus 5 nicht frei von Rätseln und Widersprüchen.
Rückblende: Für die Gedenkfeier des finnisch-schwedischen Dichters Johan Ludvig Runeberg, dem Finnland immerhin seine Nationalhymne verdankt, komponiert Sibelius 1893 das Melodram Nächte der Eifersucht für Klaviertrio, Sopran und Sprecher; und Material daraus floss dann in die Impromptus Nr. 5 und 6, die bereits 1893, ein Jahr vor der Veröffentlichung aller sechs Klavierwerke, auf dem Konzertprogramm standen. Warum Sibelius, wahrscheinlich um 1893, zwei der Impromptus für Streichorchester bearbeitete, bleibt im Dunkeln. In den Werklisten tauchen sie erst einmal nicht auf. Wahrscheinlich sollten Nr. 5 und Nr. 6 (die Frühfassung) als ABA-Zyklus aufgeführt werden. Dafür sprechen die Tonartänderungen von
h-Moll nach E-Dur. Immerhin ist die Uraufführung der Nr. 6 belegt – in Turku im Februar 1894, jetzt wohl schon in der revidierten Fassung. Zur Veröffentlichung kam es allerdings trotz der überwiegend positiven Resonanz nicht. Wahrscheinlich schickte Sibelius das Manuskript ein Jahr später an den Berliner Verleger Hermann Erler, doch es kam nicht zur Annahme. Warum nicht, bleibt im Dunkeln, alle Unterlagen des Verlag-Archivs gingen in den Nachkriegswirren verloren. Oder ist das verschwundene Manuskript vielleicht das an Erler geschickte?
Die wechselvolle Entstehungsgeschichte der beiden Streicher-Impromptus zeichnet Tuija Wicklund im mehr als lesenswerten Vorwort dieser Ausgabe minutiös nach. Überhaupt reiht sich diese Urtext-Ausgabe mit der gewohnten hohen Qualität in die Reihe der Sibelius-Ausgaben des Verlags ein. Der kritische Bericht schlüsselt die Quellen minutiös auf. Gerade im Vergleich der Früh- zur revidierten Fassung des sechsten Impromptus, so die wechselnde Tempobezeichnung von Andante über Andantino wieder zurück zu Andante und die sich ändernden Abschnitte, öffnen den Blick in die Klangvorstellungen Sibelius’. Endlich liegt nun mit diesem weiteren Band der Sibelius-Urtext-Reihe eine umfassend edierte und zuverlässige Ausgabe dieser kleinen Streicherwerke vor. Spieler:innen und Hörer:innen werden es zu schätzen wissen.
Markus Roschinski