Tobias Bleek
Im Taumel der Zwanziger
1923: Musik in einem Jahr der Extreme
Endlich gibt es eines der beliebten „Jahresbücher“ auch für die Musik. Dass vor 100 Jahren das Ruhrgebiet von französischen und belgischen Truppen besetzt wurde, was in Deutschland eine Hyperinflation auslöste, kann inzwischen wieder als bekannt gelten. Aber alles hängt mit allem zusammen, und was geschah in diesem Schlüsseljahr für die weitere Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts in der Musik? Tobias Bleek schlägt einen faszinierenden Bogen von Berlin über Budapest und Paris bis nach New York, von Igor Strawinsky und Béla Bartók bis zu Louis Armstrong und Bessie Smith, von der Erfindung der Zwölftontechnik bis zum Inflationsschlager Ausgerechnet Bananen, von der Gründung eines Musikverlags bis zur Geburtsstunde des öffentlichen Rundfunks in Deutschland. Dabei erweist sich 1923 auch in der Musik weitgehend als ferner Spiegel, denn auch wir Heutigen kennen ökonomische und kulturelle Krisen, Identitätsfragen und Nationalismus, Migration und Exil sowie Chancen und Herausforderungen eines rasanten medialen Wandels.
Bleek behandelt das krisenhafte Umbruchsjahr zum einen sehr strukturiert, bringt beispielhafte Ordnung in den zunächst ziemlich chaotisch wirkenden „Taumel“: „Fünf Kapitel, in denen der Fokus auf einer oder mehreren Hauptfiguren liegt, sind mit drei Kapiteln verzahnt, in deren Zentrum Entwicklungen im Deutschland des Jahres 1923 stehen.“ Der synchrone Schnitt „spiegelt die Vielfalt des damaligen Musiklebens, die in traditionellen musikgeschichtlichen Darstellungen oft nicht in dieser Bandbreite präsent ist“. Über einige führende Köpfe der damaligen Musik erfährt man zwar nichts grundlegend Neues, man versteht sie aber noch etwas besser im Lichte der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zum Beispiel träumte Arnold Schönberg 1923 in Wien von der Wiederkehr der Habsburger und setzte sich gegen den wachsenden Antisemitismus zur Wehr, während er seine ersten Zwölftonwerke komponierte.
Zum enorm sinnlichen Erlebnis wird die Lektüre zum anderen durch „eine Vielzahl historischer Quellen: Briefe, Tagebücher und andere private Aufzeichnungen, Artikel aus Zeitungen und Journalen, Fotografien und Bilder. Schallplatten, historische Notendrucke und Musikmanuskripte, Programmzettel, Annoncen, Eintrittskarten und – wenn es sinnvoll oder notwendig erschien – auch spätere Erinnerungen und Berichte.“ Denn selbstverständlich beschränkt sich die Erzählung nicht sklavisch auf die betreffenden zwölf Monate, sondern bezieht immer auch die Vorgeschichte und die Folgen mit ein.
Ingo Hoddick