Kostakeva, Maria
Im Strom der Zeiten und der Welten
Das Spätwerk von Alfred Schnittke
Seit 1998, als sein zwölfjähriger Wettlauf mit dem Tod ein gnädiges Ende fand, ist es ruhiger geworden um die tragische Künstlergestalt Alfred Schnittkes und seine Musik, die schwankend zwischen Eigenem und Fremdem, Aggression und Verzagtheit, Weltgetöse und abgrundtiefer Daseinstrauer viele Menschen ganz unmittelbar berührt. Verrauscht ist der vom Hamburger Verlagsmotor angetriebene Uraufführungswirbel, das Karussell der Schnittke-Tage und -Wochen erlahmt: Zeit für ruhigere Betrachtungsweisen, für Fragen nach der Selbstwahrnehmung des Komponisten (der sich hüben wie drüben als heimatlos empfand), nach dem Woher und Wohin seines Schaffens, das im Spannungsfeld Ost-West gedieh.
Zeit zumal, den Geist seines todesnahen Spätwerks zu ergründen, das er seinem fortschreitenden Siechtum unter steigendem Termindruck abrang ein überaus ideen- und ertragreicher Schaffensabschnitt, den die keineswegs spärliche russische wie deutschsprachige Schnittke-Literatur bisher außer Acht ließ. Verließ ihn mit wachsender neurologischer Beeinträchtigung die musikalische Erfindungskraft? Oder versagte am Ende nur die Schreibhand, während die Fantasie fieberte? Verursachten die Schlaganfälle einen stilistischen Paradigmenwechsel oder liegen Früh- und Spätwerk letzten Endes auf der gleichen Schaffensbahn?
Die bulgarische, seit langem in Deutschland lebende Musikwissenschaftlerin Maria Kostakeva, die ihren analytischen Scharfsinn schon am musiktheatralischen Werk György Ligetis erprobte (Die imaginäre Gattung, Frankfurt am Main 1996), nähert sich nun unter dem poetischen Titel Im Strom der Zeiten und der Welten erstmals der letzten, Hamburger Schaffensphase des Deutschrussen. Die Lektüre erweist bald: Die Titelzeile trifft den Wesenskern seiner Tonkunst. Wie sich die locker geschriebene Studie überhaupt durch besondere Werkstattnähe auszeichnet: dank der vielen O-Töne, zitiert aus den Gesprächen Alexander Iwaschkins mit dem Komponisten, dessen Schnittke-Monografie und anderen einschlägigen, auch russischen Quellen. Kleine sprachliche Ungeschicklichkeiten und Irrtümer seien der Bulgarin verziehen.
Statt einer Einleitung erörtert Kostakeva eingangs das Problem des Spätstils. Den Ausdruck individueller Todesahnung, den Adorno in Beethovens Spätwerk wahrnahm, findet sie bei Schnittke zum ständigen Gefühl der Todesnähe gesteigert. Bevor sie sich dem Fokus ihrer Untersuchungen nähert der Ballettmusik Peer Gynt sowie der Opern-Trias Historia von D. Johann Fausten, Gesualdo und Leben mit einem Idioten , versucht sie die musikalische Welt Schnittkes deduktiv einzukreisen. Dessen Verwurzelung in drei Kulturkreisen dem deutschen, russischen und jüdischen erinnert an Igor Strawinsky, Gustav Mahler und Dmitri Schostakowitsch. Mit diesem teile er den motorisch-verzerrten Duktus der Groteske und die Neigung zur polystilistischen Methode, die sich bei Schnittke in der gleichzeitigen Anwesenheit verschiedener musikalischer Sprachen und Epochen äußert, in der kugelgestaltig kreisenden Zeit (siehe Bernd Alois Zimmermann), im Wechselspiel von Erhabenem und Banalem, Gut und Böse, Gott und Teufel, welcher gern in trivialer Klangmaske auftritt.
Unter der literarischen Schlagzeile Die unerträgliche Traurigkeit des Seins gelingt der Autorin eine treffende musikalische Wesensbestimmung des Violakonzerts von 1985, dem sie eine Schlüsselrolle im Spätschaffen Schnittkes zuspricht ähnlich dem ersten Cellokonzert, dessen Orgelpunkt am Anfang und Ende direkt ins endlose Adagio des Epilogs zu Peer Gynt hinüberführt. Aus der epochalen Verwandtschaft Wagner/Ibsen, der archetypischen Figur Peers, der Spiegelung seiner Fantasiewelten in Schnittkes Partitur, dem Sphinxgesicht des Krummen, dem Wesen der Frau (Solveig und Åse) und dem Zusammenprall der Kulturen knüpft die Autorin ein dichtes, an Notenbeispielen veranschaulichtes Netz kreuz und quer verweisender Werkinterpretation.
Mit derselben Akribie tabellarische Aufrisse der Handlungsabläufe und szenischen Dramaturgie inbegriffen widmet sich die Forscherin den drei Opern der neunziger Jahre, die der Grundfigur von Schnittkes Menschenbild entspringen: der Dualität des Menschlichen und Teuflischen (das oftmals die Oberhand gewinnt). Woraus erhellt, warum Schnittke sich für den naiven Faust des Volksbuchs entschied (den Gaukler, Magier, Teufelsbeschwörer) und den Bösen in zweierlei Gestalt auftreten lässt (Mephistophiles, Mephistophila). Während Kostakeva die Historia von D. Johann Fausten als grotesk-trauriges Requiem unserer Zeit deutet, entschleiert sie die Jerofejew-Oper vom Leben mit einem Idioten in der Kommunalka (russische Wohngemeinschaft aus Not) als bissige Satire auf das Sowjetleben. Klar wird auch, dass Schnittke an der skandalumwitterten Figur des Renaissancekomponisten Gesualdo da Venosa weniger der Mörder aus verletzter Ehre interessierte als vielmehr die selbstquälerische Täter-Opfer-Gestalt und die Todessehnsucht seiner herben Madrigalkunst.
Die Unstimmigkeiten mit dem Gesualdo-Librettisten kommen zwar zur Sprache, doch weicht die Autorin der Frage aus, ob die 1995 an der Wiener Staatsoper in Abwesenheit des Komponisten uraufgeführte Version überhaupt als authentisch, als Fassung letzter Hand gelten dürfe. Ähnliches gilt übrigens für die Historia, die Gerd Albrecht und John Dew im selben Jahr in einer eigenmächtigen Hamburger Fassung an der Dammtorstraße herausbrachten. In beiden Fällen wurden Lübecker Kompositionsstudenten in die (auch interpolierende) Herstellung praktikabler Spielfassungen eingebunden, während der Komponist in einer Moskauer Klinik daniederlag.
Lutz Lesle