Drees, Stefan (Hg.)

Im Spiegel der Zeit

Die Komponistin Unsuk Chin

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2011
erschienen in: das Orchester 01/2012 , Seite 60

Wichtige Dirigenten wie Kent Nagano oder der auch als Komponist bedeutende George Benjamin zeigen sich vom Schaffen der Komponistin Unsuk Chin begeistert und fördern sie nach Kräften. Bedeutende Orchester und Opernhäuser wie die Münchner Staatsoper vergeben an die Koreanerin Kompositionsaufträge. Dennoch ist die seit Langem in Berlin lebende Musikerin aus Südkorea auf den einschlägigen deutschen Neue-Musik-Festivals kaum präsent. Chin ficht das nicht an. Seit 1994 ist sie bei dem renommierten Verlag Boosey & Hawkes unter Exklusivvertrag.
Ein bei Schott erschienener, von Stefan Drees herausgegebener Band vereint Kommentare Chins zu ihren Werken, Vorträge und Interviews, aber auch einige tiefergehende Analysen ihres Schaffens, gibt eine perspektivenreiche Annäherung an Person und Werk, wobei einige überflüssige Überschneidungen, die dem Prinzip der hier versammelten, teilweise schon an anderer Stelle erschienen Beiträgen geschuldet ist, durch eine sorgfältige Lektorierung hätte vermieden werden können. Bedeutsam sind die Bilddokumente und Notenbeispiele.
Aufschlussreich sind die Einblicke, die Chin in ihre Jugend in Südkorea gibt: Aus einer nicht sonderlich wohlhabenden, bürgerlichen Familie stammend, war es ihr nicht unbedingt vorgezeichnet, eine der bedeutendsten Komponistinnen zu werden, die das Land bislang hervorgebracht hat. Dies schlägt sich auch in Chins heutigen Aktivitäten nieder, dem Publikum ihres Heimatlandes dank der Zusammenarbeit mit Myung-Whun Chung und seines Seoul Philharmonic Orchestra die in Südkorea vielfach noch nicht rezipierte Neue Musik facettenreich nahe zu bringen.
Die Möglichkeit, mit Ligeti in Hamburg zu studieren, öffnete ihr neue Perspektiven und prägte ihre kompositorische Ausrichtung, ohne dass sie eine Epigonin wäre. Aus den unterschiedlichen Äußerungen der Künstlerin über ihren früheren Lehrer ist noch immer das schwierige persönliche Verhältnis der beiden herauszulesen, auch wenn Chin die Bedeutung des Komponisten Ligeti, aber auch dessen selbstkritische Haltung dem eigenen Schaffen gegenüber sehr schätzt.
Die Gegenüberstellung von Chins Primärtexten zu ihren Werken und Kommentaren von fremder Hand bildet den spannungsreichen Hintergrund für die Annäherung an ihr Werk. Von der Beschäftigung mit elektronischer Musik – die zwar vom Umfang her nur einen kleinen Teil ihres Schaffens ausmacht, der aber von großer Bedeutung für das Gesamtwerk ist – über die Frage nach dem Einfluss der koreanischen Tradition auf ihr Werk bis hin zu zentralen Arbeiten wie dem Violinkonzert oder ihrer Alice in Wonderland-Oper für München wird das facettenreiche Werk betrachtet. Wenn Stefan Drees im Vorwort erläutert, dass die Komponistin im Spannungsfeld von „schöpferischer Originalität“ agiert, die zugleich dem Bedürfnis nachkommt, das „neu Geschaffene auf dem Fundament bestimmter, aus dem Klang entwickelter Hörerfahrungen zu errichten“, ist dies ein Motto, das diese ebenso perspektiven- wie materialreiche Annäherung an eine der interessantesten Komponistinnen der Gegenwart gut charakterisiert.
Walter Schneckenburger