Kolbe, Corina

“Im Musikkindergarten ist es wie bei uns zu Hause”

Musikereltern über ihre Erfahrungen mit dem Nachwuchs im Kindergartenalter

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 06/2011 , Seite 27
Im Musikkindergarten in Berlin-Mitte wird es auf einmal mucksmäuschenstill. Eine Gruppe von Zwei- bis Fünfjährigen schaut gespannt zu einer kleinen Bühne, auf der zwei Fagottistinnen der Staatskapelle ihre Instrumente auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Aufmerksam lauschen sie den Tönen, die die Musikerinnen hervorbringen. "Woran denkt ihr bei diesem Klang?", wird kurz in die Runde gefragt. "An einen Kontrabass", kommt prompt als Antwort.

In dem Kindergarten, der 2005 auf Initiative von Daniel Barenboim gegründet wurde, bekommen die Kinder nicht nur eine Vorstellung davon, welches Streichinstrument dem tiefsten Holzblasinstrument entspricht. Sie erleben auch und vor allem ein soziales Miteinander durch Musik und schärfen dadurch all ihre Sinne. „Wir wollen die Freude der Kinder an klassischer Musik wecken. Das ist die Grundvoraussetzung, um selbst Musik zu machen und sie genießen zu können“, erklärt die Leiterin Leonore Wüstenberg. Die Frühförderung von musikalischem Spitzennachwuchs ist also keinesfalls das Ziel der Einrichtung. Unter den 60 Kindern, die dort zurzeit betreut werden, sind aber auch Töchter und Söhne von Berufsmusikern und Sängern. Um zu vermeiden, dass die Einrichtung in der Öffentlichkeit als eine Art Betriebskindergarten der Staatskapelle wahrgenommen wird, darf der Nachwuchs der Orchestermusiker höchstens ein Drittel aller Kinder ausmachen. Diese Obergrenze wird aber noch längst nicht erreicht. Insgesamt ist die Zahl der Künstlerkinder eher gering. Genutzt wird das Angebot von Eltern aus allen möglichen Berufsgruppen, die auf die pädagogische Kraft der Musik setzen.
Professionelle Musiker, die ihre Kinder Leonore Wüstenberg und den Erzieherinnen anvertrauen, sind von dem Konzept begeistert. Allerdings unterscheidet sich ihr Tagesablauf oft erheblich von dem anderer berufstätiger Eltern. An vielen Abenden sind Proben und Vorstellungen angesetzt, an Wochenenden sitzen sie ebenfalls häufig im Orchestergraben oder auf der Bühne. Wenn der Partner nicht frei hat, sind sie auf Babysitter angewiesen. Denn der Musikkindergarten hat zwar flexiblere Öffnungszeiten als andere Einrichtungen – abends und am Wochenende ist er jedoch geschlossen. Bis jetzt sei noch nicht nach erweiterten Öffnungszeiten gefragt worden, betont Wüstenberg. Andernfalls würde man sich natürlich bemühen, den Wünschen der Eltern so weit wie möglich entgegenzukommen.
Der Finne Lauri Angervo, der als Cellist im Konzerthausorchester spielt, schätzt an dem Kindergarten vor allem, dass Musiker nicht wie oft anderswo als merkwürdige Außenseiter betrachtet werden. Seinen fast fünfjährigen Sohn Nilo hat er im Februar angemeldet, ein paar Wochen, nachdem er aus Lappland an seinen ehemaligen Studienort Berlin zurückkehrte. Seine Frau ist Konzertpianistin, außer Nilo haben sie noch einen siebenjährigen Sohn, der auf die Waldorfschule geht.
„Hier im Musikkindergarten ist es wie bei uns zu Hause“, meint Angervo. „Wir singen oft zusammen. Nilos älterer Bruder spielt Geige, und der Kleine möchte am liebsten Cello lernen.“ Im Kindergarten sind Trommeln und andere Instrumente immer in direkter Reichweite der Kinder, sie werden spielerisch in das pädagogische Gesamtkonzept einbezogen. Einer der Erzieher hat mit der Laubsäge eine Geige, ein Cello und Bratsche gebastelt, die Musiker mit alten Saiten bespannt haben. So können die Kinder an Instrumenten üben, die fast wie echte aussehen.

Mehr als nur Betreuung
Lauri Angervo denkt an seine eigenen Erfahrungen im Norden Finnlands zurück. In Lappland organisierten Orchester viele musikalische Aktivitäten in Schulen, berichtet er. „Jedes Kind ist musikalisch. Es geht darum, diese Musikalität zu wecken.“ Dem Finnen ist sehr wohl bewusst, dass nur eine breit angelegte Erziehung zur Musik den Orchestern auch künftig noch ihr Publikum erhalten kann. Ihm ist auch positiv aufgefallen, dass die Kleinen in dem Kindergarten viel aufmerksamer und ruhiger sind als anderswo. Eine solche Ruhe könne einem sonst nur die Natur vermitteln, meint er. Obwohl er abends im Orchester spielt und seine Frau als Pianistin ebenfalls häufig unterwegs ist, arrangieren sich die Angervos offensichtlich gut mit der Kinderbetreuung. Wenn man als Musiker zu Hause nur begrenzt Zeit zum Üben habe, arbeite man konzentrierter, erklärt er. In jedem Fall empfinde er seinen Beruf als großes Privileg.
Auch Claudia Stein, Solo-Flötistin in der Staatskapelle, kennt den Spagat zwischen Beruf und Familie. Ihre ältere Tochter Elisa, die mittlerweile zur Schule geht, war einige Jahre im Musikkindergarten. Ihre Zwillinge sind dafür im Moment noch zu klein. Die Musikerin lernte das Konzept kennen, als sie dort mit anderen Orchestermitgliedern in der Startphase Aufbauarbeit leistete. „Wir alle tragen die Idee mit, indem wir den Kindergarten weiterhin regelmäßig mit unseren Instrumenten besuchen“, sagt ihr Kollege Andreas Greger, der dem Orchester seit vielen Jahren als Solo-Cellist angehört. Sein jüngster Sohn, der jetzt fünf ist, wird seit zwei Jahren von Wüstenbergs Team betreut.
Greger lobt den hohen Anspruch der Erzieher, die Kinder nicht nur zu verwahren, sondern sich kreativ mit ihnen auseinanderzusetzen. Auch Stein ist davon überzeugt, dass durch Musik die Wahrnehmung und Fantasie besonders intensiv angeregt werden. „Man kann das als Modell für den gesamten Alltag nehmen“, meint sie. „Miteinander zu musizieren, bedeutet auch, miteinander zu kommunizieren. Man muss zuhören und sich selbst einbringen – wie sonst im Leben auch.“ Die Welt sei heute sehr visuell ausgerichtet, sagt die Flötistin. Kindern, die über die Straße gehen wollten, werde nur beigebracht, auf den Verkehr zu schauen, statt auch auf ihn zu hören. In dem Kindergarten werde ihnen dagegen frühzeitig eine ganzheitliche Wahrnehmung vermittelt.
Die flexiblen Betreuungszeiten über Tag sind für Stein bereits eine große Hilfe. Man könne die Kinder später bringen als anderswo üblich und sie dann auch später abholen. Wenn andere Kindergärten bereits am frühen Nachmittag schlössen, bedeute dies für einen Orchestermusiker, der vorher Probe habe, großen Stress, sagt sie. Manche Eltern kämen von weiter her und seien daher froh, die Kinder nicht schon um 8 Uhr bringen zu müssen. Greger meint dazu, dass solch ein gleitender Rhythmus Freiberuflern in anderen Branchen ebenfalls entgegenkomme. Spätestens um 18 Uhr schließt aber auch der Musikkindergarten seine Pforten. Greger kann sich durchaus vorstellen, dass ein Kindergarten mit Abendöffnungszeiten, etwa bis 22 Uhr, in Berlin auf größere Nachfrage stoßen würde. Schließlich gebe es in der Stadt viele verschiedene Bühnen, deren Mitarbeiter bei der abendlichen Betreuung des Nachwuchses vor ähnlichen Problemen stünden.
Ein Kindergarten in zentraler Lage, der vor allem Musikern, Sängern, Tänzern und Schauspielern ein zeitlich erweitertes Betreuungsangebot bieten könnte, wäre nach Ansicht von Stein und Greger zumindest eine Überlegung wert. „Insbesondere bei Abendproben von 18 bis 21 Uhr könnte das eine interessante Option sein“, meint der Cellist. Ob Künstler ihren Kindern aber zumuten wollten, an Abenden mit Vorstellungen regelmäßig außer Haus einzuschlafen und spät wieder nach Hause zu kommen, ist eher unwahrscheinlich. Immerhin wird deutlich, dass in einer zunehmend flexibilisierten Arbeitswelt neue Kinderbetreuungsmodelle durchaus zur Diskussion stehen.