Obert, Simon / Matthias Schmidt (Hg.)

Im Mass der Moderne

Felix Weingartner – Dirigent, Komponist, Autor, Reisender

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schwabe, Basel 2010
erschienen in: das Orchester 10/2010 , Seite 68

Der umfangreiche Band gleicht eher einer Festschrift als einer Biografie. Eine Vielzahl von Autoren beleuchtet den österreichischen Dirigenten und Komponisten – sein vollständiger Name lautete Felix Paul Weingartner Edler von Münzberg (1683-1942) – in zahlreichen Facetten. Die Herausgeber konnten auf einen reichen Quellenfundus in der Universitätsbibliothek Basel zurückgreifen.
Peter Gülke beschäftigt sich mit der Physigonomie Weingartners und geht sehr detailliert zu Werke. Er hebt das handwerklich orientierte Vorgehen des Dirigenten hervor, wobei er sich durchaus kritisch mit den späteren Aufnahmen auseinandersetzt. Erhellend sind die Vergleiche mit Furtwängler und die Hinweise auf Nikisch, Knappertsbusch, Klemperer und Walter. Die Empfindsamkeit Weingartners wirkt erschreckend. Aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen kündigt er Verträge, sagt Konzerte und Dirigierverpflichtungen an der Berliner Staatsoper ab. Interessant ist sein Verhältnis zu Rudolf Steiner und seine Nähe zum Freundeskreis der theosophischen Loge, der Mahler und Hugo Wolf angehörten.
Einen wichtigen Raum innerhalb des Bandes nimmt die Beziehung zu Gustav Mahler ein, die nach außen hin gut war, aber getrübt wurde durch Weingartners verletzlichen, pessimistischen Charakter, was Clemens Höslinger gut herausarbeitet. In seinem Beitrag „Der ferne Onkel“ gibt Harald Goertz eine vortreffliche Schilderung von Weingartners Dirigierstil. So betont er Kantabilität und Transparenz, pointierte Rhythmik und die sparsame, nur aus dem Unterarm gelenkte Zeichengebung.
Immer wieder kommt Weingartner selbst zu Wort, so in seinen „Beziehungen zur Schweiz“ und in „Basler Reminiszenzen“. Es drängt ihn, sein eigenes Handeln gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. In Basel initiiert er Dirigierkurse. In seinem Beitrag „Originalität“ geht es um die Eingriffe Richard Wagners an Partituren anderer Komponisten, was auch Weingartner für richtig hielt, etwa im Fall Beethovens, dessen Schwerhörigkeit und der Mangel an modernen Blasinstrumenten sein Vorgehen rechtfertigten. Wichtig ist für ihn Ehrlichkeit gegenüber dem Vorbild.
Arne Stollberg widmet sich Weingartners Schubert-Bild als Tragiker unter den Tondichtern und Gegenpol zu Beethoven. Er will mit dem gemütvollen Bild aufräumen. Carmen Weingartner-Studer, seine fünfte Ehefrau, stößt in das gleiche Horn. Weingartners h-Moll-Sinfonie La Tragica wird von Riemann als „Kapellmeister-Musik“ beurteilt.
Sehr ergiebig Silvan Moosmüllers Beitrag zu Weingartners und Mahlers Interpretation von Beethovens Neunter: auch hier Rechtfertigung von Retuschen. So setzt Weingartner auf stilistische Treue, Mahler jedoch auf Wirkungstreue. Der Artikel von Matthias Schmidt widmet sich Weingartner und Mahler als dirigierenden Komponisten, und die Bemerkung, dass Weingartner seine Persönlichkeit im Werk zum Verschwinden bringen wollte, darf positiv beurteilt werden. Vorzuwerfen ist der Konzeption des Bandes die zu starke Berücksichtigung Mahlers, auch wenn er einen starken Gegenpol zu Weingartner darstellte. Zahlreiche Fotos beleben das Gesamtbild.
Ingrid Hermann