Mozart, Wolfgang Amadeus

Il sogno di Scipione KV 126 / Apollo und Hyacinth KV 38 / La finta giardiniera KV 196

Klavierauszüge nach dem Urtext der Neuen Mozart-Ausgabe

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2004
erschienen in: das Orchester 04/2005 , Seite 85

Glenn Gould hat seinen legendären Ruf nicht als Mozart-Interpret erworben. Im Gegenteil gilt der Pianist einigen sogar als Mozart-Vernichter. Doch seine Aussage, er halte den jungen Mozart für bedeutender als den mittleren und späten, blieb dennoch im Kopf der Musikwelt hängen – vielleicht, weil dies in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mehr als nur kurios, ja eigentlich absurd schien. Und Nikolaus Harnoncourt, erhaben über jeden Verdacht der Mozart-Verächtlichmachung, bemerkt im Booklet seiner neuesten Mozart-CD mit frühen Sinfonien: „Einen wilderen, überraschenderen Mozart als in diesen Sinfonien des 10- bis 12-Jährigen gab es nie mehr…“ Beide Aussagen zeigen, bei aller gegensätzlichen musikalischen Auffassung der Interpreten, dass es da offenbar ein Potenzial zu entdecken gilt, das seinesgleichen sucht.
Gut ein Jahr vor Mozarts 250. Geburtstag hat Bärenreiter die revidierten Klavierauszüge zu drei Opern des Junggenies herausgebracht – und man kann nur sagen: endlich! Endlich haben nun auch die Sänger und Sängerinnen und alle anderen Beteiligten einer Opernproduktion, die nicht immer mit der Urtext-Partitur der Neuen Mozart-Ausgabe (NMA) unterm Arm spazieren gehen (können), eine Grundlage für ihre Arbeit, die nicht durch die Brille spätromantischer Bearbeiter entstanden ist, die glaubten, den kompletten Orchesterapparat in die Klavierbegleitung packen zu müssen, der dadurch aufquoll wie ein Hefeteig.
Karl-Heinz Müller (Apollo und Hyacinth KV 38 und Il sogno di Scipione KV 126) und Eugen Epplée (La finta giardiniera) verschlanken in ihren Bearbeitungen den Klavierpart auf pianistisch angenehme, musikalisch (nicht technisch) motivierte Weise, sodass die Begleitung auch wirklich nach Mozart klingt, ohne aufschwemmende Terzparallelen und lärmende Alberti-Bässe. Das große Verdienst dieser Klavierauszüge, die auf der Basis der kritischen Gesamtausgabe entstanden, besteht in dem, was sie gegenüber früheren eliminieren. Das trägt nicht nur zur Verklarung des Klaviersatzes in Arien und Ensembles bei, es fördert – so kann man nur hoffen – auch die Improvisationsbereitschaft des Continuo-Spielers in den Rezitativen. Denn die Begleitung ist nicht bzw. nur ganz selten ausgesetzt und beschränkt sich im Wesentlichen auf die Harmonisierung der Gesangslinien.
Hier ist Eigeninitiative gefordert! Beide Herausgeber, Dietrich Berke und Josef-Horst Lederer, ermuntern die Musiker am Tasteninstrument zur (zeittypischen) Improvisation. Da es inzwischen sehr viele gut ausgebildete und historisch versierte Generalbassspieler gibt, darf man dies auch durchaus verlangen. Es wäre in der Opernpraxis schon mehr als verdrießlich, wenn man ausschließlich das zu hören bekäme, was hier (absolut begrüßenswert und historisch sauber!) in scheinbar so schmucklose Noten gefasst ist! Fantasie ist gefordert. Vokale Verzierungsmöglichkeiten sind der Singstimme im Kleindruck beigegeben, um auch die Vokalisten zum Ausschmücken ihrer Arien zu ermutigen.
Editorische Basis für die Klavierauszüge ist die Neue Mozart-Ausgabe, die ihrerseits auf Autografe (soweit vorhanden) und zeitgenössische Abschriften zurückgreift. Einen Sonderfall bildet die Oper La finta giardiniera, von der die Mozart-Handschrift des 2. und 3. Akts, die in Krakau aufbewahrt wird, erst nach Fertigstellung der Edition im Rahmen der NMA (1978) zugänglich wurde. Für die jetzige Neuausgabe des Klavierauszugs wurden die von der NMA abweichenden Lesarten des Autografs mit herangezogen. Es handelt sich also um die nach gegenwärtigem Wissensstand aktuellste und am weitesten dem Original verpflichtete Publikation dieser Oper.
Ein Praxistest dieser Ausgaben steht freilich noch aus, aber die Editionen als solche sind mehr als viel versprechend: Sie stellen eine solide, historisch fundierte Arbeitsgrundlage dar, die für die nächsten Jahrzehnte bestimmend sein wird für die gesamte Mozart-Rezeption. Die Theater werden es mit Sicherheit ebenso danken wie das Opernpublikum.
Matthias Roth