Haffner, Herbert

Ich wollte kein “Nachdirigierer” sein

Wolfgang Sawallisch im Gespräch

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 12/2008 , Seite 32
Der Dirigent Wolfgang Sawallisch wurde in diesem Jahr 85 Jahre alt. Im Gespräch mit Herbert Haffner blickt er zurück auf seine Laufbahn vom Augsburger Stadttheater bis zur Bayerischen Staatsoper, von den Wiener Symphonikern bis zum Philadelphia Orchestra.

Ihr Vater war Direktor der Zweigstelle einer großen Versicherung. Ich denke mir, der hätte sich wohl eher gewünscht, dass sein Sohn ein Arzt wird oder Rechtsanwalt – aber nicht gerade ein Kapellmeister.

Ich weiß nicht, was er sich gedacht hat. Jedenfalls hab ich erst mit fünf Jahren ein Instrument gesehen. Mein Großvater in Wuppertal- Elberfeld hatte zu einem runden Geburtstag den ganzen Sawallisch- Clan eingeladen. Es war mir so stinklangweilig, mit den ganzen alten Damen und Herren zusammenzusitzen und sich nur über die Familie zu unterhalten, und ich habe ich mich aus dem Zimmer he – rausgeschlichen. Es musste in diesem Haus ja etwas geben, was einen Buben mit fünf Jahren mehr begeistert. Und so habe ich einen großen Flügel entdeckt, die verschiedenen Töne rauf und runter ausprobiert und versucht, mir auf den Tasten alle die Kinderlieder, die man so von der Mutter vorgesungen bekommt, zusammenzusuchen. Mein Großvater meinte, da könne bei mir vielleicht eine Begabung liegen, und hat meinen Vater gebeten, mir doch ein altes Klavier zu kaufen. Und von dem Moment an hat man mich von diesem Instrument nicht mehr weggekriegt. Ich habe Schulaufgaben versäumt und mich im Laufe der ersten drei Jahre entschlossen, Konzertpianist zu werden. Bald hatte ich sehr guten Unterricht – mein erster Lehrer hieß sinnigerweise Pedal – und bekam ein besseres Instrument. Mein Vater hat mich dann in Konzerte mitgenommen, und ich habe mit zehn Jahren schon meine ersten Preise in München gewonnen. So war das für meinen Vater überhaupt keine Frage, dass sich da mit mir kein Rechtsanwalt oder Mediziner in die Familie einschleichen wird.

Ihre Eltern waren überhaupt sehr spendabel, denn Sie hatten ja musikalisch fast nur Privatunterricht…

Nur Privatunterricht. Eines Abends haben mich meine Eltern in die Oper mitgenommen, logischerweise zu “Hänsel und Gretel”. Ich war völlig fasziniert von dem Mann da unten im Graben und habe gesagt: „Nein, Klavierspielen, das ist mir zu primitiv, das ist immer dasselbe Instrument, derselbe Klang, ich möchte das werden, was der da unten gemacht hat, der da ein Orchester vor sich hat.“ Da gab es einen sehr guten Freund meines Vaters, der dann eine Frau Sachse auf mich aufmerksam gemacht hat, bei der ich die ersten wirklich größeren Stücke gespielt habe. Und eines Tages sagte ihr Mann, der Professor Doktor Sachse, ein Lehrer an der Musikhochschule: „Wolfgang, wärst du bereit, dich ausbilden zu lassen? Das würde ich machen, nicht in der Hochschule, sondern auch auf privater Ebene.“ Und ich habe das alles mit einer affenartigen Geschwindigkeit in mich hineingedrückt, sodass ich gleichzeitig mit der Schule und dem Studium der musikalischen Fächer fertig war.

> Aber am Tag nach dem Abitur wurden Sie zur Wehrmacht eingezogen.

Da war natürlich mit Klavierspielen nichts mehr zu machen.

Obwohl Sie das Klavierspielen vor der Ostfront bewahrt hat.

Das ist richtig. Da gab’s die Münchner Rundfunkspielschar, das war ein musikalisch sehr hochstehender Musikverein, durchaus nicht politisch abgedeckt, sondern man beschäftigte sich weitgehend mit alten Madrigalen, Barockmusik, Vorbarockmusik, da hab ich enorm viel gelernt. Der Verein hatte für diese Spielschar eine Konzertreise angesagt, die für die Verwundetenbetreuung in Krankenhäusern Musik gemacht hat, und bei dieser Gelegenheit hatte ich die Möglichkeit, das Italienische Konzert von Johann Sebastian Bach als Solist zu spielen. Als ich dann wieder zurückgekommen bin nach Augs – burg in meine Garnison, wo ich als Infanterist eingezogen war, war kein Mensch mehr da, die ganze Kaserne war verlassen. Die Einheit, der ich angehörte, kam nach Stalingrad. Keiner ist zurückgekehrt.

1947 kamen Sie als Korrepetitor und Kapellmeister ans Stadttheater Augsburg. Sie hatten aber doch eine Dirigierausbildung durch einen Meis terkurs bei Igor Markevitch?

Ja und nein. Ich war damals schon in Augsburg und hatte praktische Erfahrung. Da las ich eines Tages in einer Musikzeitschrift, dass Wilhelm Furtwängler sich bereiterklärt habe, im Jahr 1950 während seiner Tätigkeit bei den Salzburger Festspielen auch einen Interpretationskurs für junge Musikstudenten und angehende Kapellmeister zu halten. Ich hab mich sofort gemeldet und bin voller Hoffnung dorthin gefahren. Da kam die Nachricht, dass Furtwängler erkrankt sei, er könne diesen Unterricht nicht halten. Wir könnten das Geld zurückbekommen, das wir als Kursgebühr bezahlt hatten, oder uns damit einverstanden erklären, dass ein Vertreter von Furtwängler, ein gewisser Igor Markevitch, diesen Kurs übernähme. Ich habe das Angebot dann angenommen, aber das war für mich kein wirklicher Ersatz, weil Markevitch zwar technisch phänomenale Hin – weise geben konnte – aber ich hatte ja schon Erfahrung bei Operetten und Opern gesammelt –, jedoch musikalisch, und das wollte ich ja eigentlich, konnte ich von ihm überhaupt nicht viel erfahren.

Sie waren dann ab 1958 GMD in Wiesbaden, dann in Köln. Herbert von Karajan wollte Sie an die Wiener Staatsoper holen, Carl Ebert nach Berlin an die Deutsche Oper, Rudolf Hartmann an die Bayerische Staatsoper nach München und Rudolf Bing an die New Yorker Met – und jeder junge Dirigent hätte gejubelt und wäre gesprungen. Sie jedoch haben allen abgesagt.

Und selbst heute, am Schluss meiner dirigentischen Tätigkeit, bin ich überzeugt, dass ich das Richtige getan habe. Nehmen wir Karajan, der ganz deutlich gesagt hat: „Ich brauche jemand, der mir die großen Abendvorstellungen – “Tannhäuser”, “Don Carlos” und so weiter – auf dem höchsten Niveau dirigiert, zu dem die Wiener Staatsoper fähig ist. Dazu brauche ich jemand, um zu wissen: Der laufende Theaterbetrieb ist in besten Händen.“ Habe ich gesagt: „Nein, ich will nicht ein Repertoirekapellmeister für gute Abendvorstellungen sein, ich möchte selbst die besten Vorstellungen dirigieren, möchte selber Neuinszenierungen dirigieren.“ Bing von der Metropolitan sagte: „Ich brauche einen Repertoiredirigenten, der mir das italienische und deutsche Repertoire aus dem Effeff dirigiert.“ Ich habe gesagt: „Nein, ich will nicht ein Nachdirigierer sein.“ Bei Hartmann in München musste ich sagen: „Lieber Professor, ich bin noch nicht so weit. Ich kann nicht nach München gehen, um als Ihr Generalmusikdirektor nun den Ring zu dirigieren, den dort Bruno Walter und Richard Strauss, Clemens Krauss und Hans Knappertsbusch dirigiert haben. Den muss ich zuerst einmal woanders gemacht haben.“ Dadurch kam’s nicht zustande. Bei Ebert in Berlin genau das Gleiche. Wie ich zu ihm gesagt habe: „Und wer bestimmt nun die Sänger, mit denen ich arbeiten will, und wer das Repertoire?“, antwortete er: „Na ja, damit haben Sie gar nichts zu tun, das mache ich.“ Dazu gehe ich doch nicht nach Berlin!

Aber immerhin kam dann 1957 Bayreuth auf Sie zu. Und zwar gleich mit einem Tristan…

… den ich nur deswegen in Bayreuth gemacht habe, weil ich erstens mit Wilhelm Pitz, dem legendären Chordirektor von Bayreuth, „meinem“ Chordirektor in Aachen, wo ich als Generalmusikdirektor tätig war, zusammenarbeiten konnte, und zweitens, weil auf Empfehlung von Pitz Wolfgang Wagner eigens nach Aachen gekommen war, um sich einen von mir dirigierten Tristan anzuhören. Und da ihm der anscheinend gut gefallen hat, habe ich mir gedacht, das ist jetzt die Möglichkeit eine mit einem kleineren Apparat gemachte Erfahrung in den Riesenrahmen des Bayreuther Festspielhauses und der Bayreuther Festspiele zu übersetzen.

Es gibt von Ihnen eine phänomenale Aufnahme von Strauss’ “Capriccio”, mit allen, die damals groß und teuer waren: Schwarzkopf, Ludwig, Moffo, Gedda, Fischer-Dieskau… – und eine kleine Rolle als Diener singt Wolfgang Sawallisch.

Für den einen Satz „Zu dienen, vier Pferde“ kann man ja nicht einen großen Tenor engagieren. Ich habe während der Proben, nur um über diese leeren Takte hinwegzukommen, schnell jedes Mal diese zwei Takte so improvisiert. Als ich später mit Walter Legge alles abgehört habe, kamen wir an diese Stelle: Es war vergessen worden, sie mit einem Sänger aufzunehmen! Da haben wir uns von diesen zig Aufnahmen, die da gemacht worden waren, die beste ausgesucht, und seitdem bin ich als Sänger auf dieser Einspielung verewigt.

Sie haben ja eine zweite Karriere gemacht als Liedbegleiter und überhaupt Kammermusiker. Ein Liedbegleiter ist für viele Leute eben der Herr, der da am Klavier sitzt und den großen Sänger unterstützt.

Ich habe im Lauf der Jahre mit vielen Begleitungen durch Fischer- Dieskau und Elisabeth Schwarzkopf – und ich muss noch Peter Schreier nennen – gelernt, wie wichtig ein Begleiter ist, einem Sänger hilfreich zur Seite zu stehen, wie sehr es auf die Zusammenarbeit zwischen dem Sänger und dem Pianisten ankommt, durch Beschleunigung, durch Ritardandi, durch dynamische Veränderungen, die man gar nicht probiert hat, die vielleicht am Abend kommen durch irgendwelche äußeren Umstände. Ich habe einmal eine Liedertournee mit Fischer-Dieskau gemacht, und an einem Abend, der besonders gut gelungen war, haben wir uns kurz über eine Zugabe verständigt. So fasziniert von dem Abend, habe ich dieses Lied beinahe doppelt so schnell angefangen wie erforderlich. Ich denke: „Um Gottes Willen – ausgerechnet bei der letzten Zugabe, wo wir wissen, wir können nichts mehr darauf verbessern, sause ich Depp da los!“ Ich werde seinen Blick nie vergessen: „Na, wie soll das gehen?“ Es gibt dann nur eines, halbes Tempo bei Beginn des Liedeinsatzes. Von wegen! Er hat’s doppelt so schnell gesungen und ist auf die Eskapaden seines Begleiters eingegangen.

1971 wurden Sie Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper und nach allerlei Querelen mit August Everding 1982 sogar Staatsoperndirektor. Wenn Sie heute auf Ihre Münchner Jahre zurückblicken, wie erscheint Ihnen diese Zeit? 

Für mich waren die zwanzig Jahre auf dem Gebiet der Oper ganz zweifellos die Erfüllung des Dirigententraums, Leiter eines großen Opernhauses zu sein. Die Einstellung des Orchesters und des ganzen Ensembles auf die Person, die dann dieses Haus leitet, ist so faszinierend; dieses Puzzlespiel, das notwendig ist, um am Abend zusammengesetzt zu werden, und aus Licht, Kostüm und Bühne und Aktion, Aktivität und Orchester, Dunkelheit und Helligkeit eine Aufführung entstehen zu lassen. Das ist kein Abspielen, sondern wird jeden Abend durch den Austausch oder durch die Disposition eines Sängers zu einem eigenen Ereignis, und das auf dem höchsten Niveau, mit den besten Sängern der Welt, die wir in München gehabt haben.

Und dann haben Sie 1993 noch mal einen ganz neuen Lebensplan realisiert: Sie sind in USA Chef des Philadelphia Orchestra geworden.

Ich habe mich immer ein bisserl gegen Amerika gewehrt, weil ich nicht nur als Gastdirigent hingehen wollte; bis zu dem Moment, wo mich Eugene Ormandy persönlich zu seinem Philadelphia Orchestra eingeladen hatte, sodass ich also nicht wie bei einem Agenten einfach nein sagen konnte, sondern das war ein Kollege der Top-Klasse, und diese Einladung anzunehmen, mit einem der „Big Five“ in Amerika zu musizieren, das konnte ich nicht ablehnen. Und ich kam mit der Sinfonie von Wolfgang Fortner, einem technisch sauschweren Stück; das Orchester konnte sich nicht vorbereiten, weil ich die Noten im Flugzeug dabei gehabt habe. Ich komme hin, bringe die Noten von meinem Hotel zur ersten Orchesterprobe mit – und das lief ab, vom Blatt gespielt, wie wenn ich schon 14 Tage da gewesen wäre. Wir haben dann nur noch kleine Verbesserungen vorgenommen, und das Stück stand. Ormandy hat mich eingeladen, sein Nachfolger zu werden. Das konnte ich aus Vertragsgründen hier in Europa damals nicht annehmen. Bis dann die Einladung 1993 kam, da hat’s mich gebitzelt, und ich habe gesagt: „Jetzt werde ich siebzig Jahre alt – ich mach’s mit einem Zehn-Jahres-Vertrag.“ Das waren wiederum die schönsten zehn Jahre auf dem sinfonischen Gebiet.

Sie haben vor vier Jahren Ihre Karriere einfach beendet – warum?

Siebenundfünfzig Jahre habe ich aktiv gearbeitet. Jeder lebt nur einmal und hat nur eine Gesundheit. Es war zum großen Teil einfach ein körperliches Nicht-mehr-so-fit-Sein, wie ich mir’s vorstelle. Aber das ist wieder etwas anderes