Sandberger, Wolfgang (Hg.)

“Ich will euch trösten…”

Johannes Brahms – ein deutsches Requiem

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Text + Kritik, München 2012
erschienen in: das Orchester 02/2013 , Seite 59

Über das Deutsche Requiem von Johannes Brahms scheint schon alles gesagt und geschrieben. Das große Chorwerk steht im Kanon der großen Oratorien auf den Bühnen und in den Herzen der Liebhaber. Ein Werk, über das nun neu nachzudenken ist: Eine Ausstellung zum Deutschen Requiem im Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck lenkte den Blick des Betrachters auf Entstehung und Rezeption des Werks im 19. Jahrhundert. Ausstellungsobjekte und der mit wissenschaftlichem Anspruch ausgestattete Ausstellungskatalog bringen den Monolith Deutsches Requiem ein wenig ins Wanken.
Indem sonst verstreute Aussagen zur Rezeptionsgeschichte hier so verdichtet dargeboten sind, wird der Werkcharakter, über den sich die Praktiker einig waren, hinterfragt. Wolfgang Sandberger, der Leiter des Lübecker Brahms-Instituts, denkt in seinem Aufsatz konsequent die Idee vom Requiem als „offenem Werk“ zu Ende. Die dreisätzige Fassung der Wiener Uraufführung von 1867 steht nun neben Brahms’ Aussage, man könne die Sätze seines Requiems auch einzeln aufführen oder einige Sätze daraus etwa mit Beethovens Eroica koppeln. Die Bremer Fassung, bei der 1868 sechs Requiem-Sätze mit Chören aus Händels Messias und Geigen-Solo-Stücken gemischt wurden, die wir Heutigen bisher eher als abseitiges Kuriosum zur Kenntnis genommen hatten, erhält in Sandbergers Interpretation den Charakter des auch heute Möglichen. Zudem wird der Annahme, der schöne fünfte Satz sei der zuletzt und geradezu nachkomponierte Satz – eine These, die der erste Brahms-Biograf Max Kalbeck aufgestellt hatte – entgegengetreten.
Die Untersuchungen von Michael Struck gehen in eine ähnliche Richtung. Der Kieler Brahms-Forscher vermutet anhand einer neuen Sicht auf die Quellen, dass der fünfte Satz schon gemeinsam mit den ersten Sätzen entstanden war. Auch stellt er eine weitere aufführungshistorische Variante im 19. Jahrhundert vor: die in einem Privatkonzert erklungene englische Variante mit Singstimmen und vierhändigem Klavier.
Der Wiener Brahms-Forscher Otto Biba verweist auf zwei Sammlungen von Bibelzitaten einer Brahms-Cousine, die denselben religiösen Refle­xions­grad spiegeln wie Brahms’ Textauswahl im Requiem. Den religionsgeschichtlichen Hintergrund zum Deutschen Requiem spannt des Weiteren ein Text vom Religionswissenschaftler Johannes Schilling, der zwar den Bogen zum Requiem nur mühsam findet, aber sehr kenntnisreich die aufgeklärte protestantische Frömmigkeit in Norddeutschland, ohne die das Deutsche Requiem nicht entstanden wäre, ausleuchtet. Brahms’ vermutete geistige Auseinandersetzung mit dem Bibeltext skizziert Jan Brachmann sehr anschaulich und umfassend.
Dieser Ausstellungskatalog will mehr sein als die Dokumentation einer kleinen Lübecker Ausstellung. Auch wenn nur 46 meist schwarz-weiße Objekte – Briefe, Fotografien, Notenblätter und andere Dokumente – im Katalog abgebildet sind: Mit den fünf spannenden Aufsätzen und der aufwändigen Gestaltung signalisiert das Lübecker Brahms-Institut eine gewisse Deutungshoheit in Sachen Brahms.
Katharina Hofmann

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