Bruno Monsaingeon
Ich denke in Tönen
Gespräche mit Nadia Boulanger. Übersetzt von Joachim Kalka
Schon früh gab Nadia Boulanger das Komponieren auf. Ihre eigenen Werke empfand sie im Vergleich zu denen ihrer jung verstorbenen Schwester Lili als viel zu unbedeutend. In die Musikgeschichte ist sie vor allem als große Pädagogin eingegangen. Zu ihren Kompositionsschülern zählten unter anderem Aaron Copland, Igor Markévitch, Leonard Bernstein und Philip Glass. 1979 starb Boulanger im hohen Alter von 92 Jahren.
In einem Buch, das zwei Jahren nach ihrem Tod in Frankreich erschien, blickt der französische Geiger und Filmregisseur Bruno Monsaingeon auf Begegnungen mit ihr in den letzten fünf Lebensjahren zurück. Verschiedene Rundfunk- und Filmtexte, die nach diesen Treffen entstanden, setzte er zu einem erfundenen Dialog zusammen, den der Übersetzer Joachim Kalka nun ins Deutsche übertragen hat. Monsaingeons Vorgehensweise ist gewagt. Um fehlende Überleitungen zwischen den sich assoziativ aneinanderreihenden Gedanken zu ergänzen, entwirft er schreibend ein „stilistisches Doppel“ von Boulanger. Auch wenn die Gespräche in dieser Form nie stattgefunden haben, wirken sie durch die schlichte Prägnanz der Aussagen äußerst glaubhaft und authentisch.
1887 als Tochter des Komponisten Ernest Boulanger und der russischen Sängerin Raïssa Mychetskaja in Paris geboren, verspürte sie zunächst eine starke Aversion gegen Musik. „Ich bin aufgewachsen als Kind, das keine Musik ertragen konnte. Sie tat mir geradezu weh, ich schrie.“ Diese Abneigung schlug jäh in Begeisterung um, als sie eines Tages einen Feuerwehrwagen auf der Straße vorbeifahren hörte und dann diese Töne auf dem Klavier suchte. Von da an war ein Leben ohne Musik für sie nicht mehr vorstellbar.
In Monsaingeons Buch verknüpft der Faden des fiktiven Zwiegesprächs Boulangers Erinnerungen an ihre Kindheit in einer Künstlerfamilie und den Unterricht bei Lehrern wie Gabriel Fauré mit den Eindrücken, die Generationen von Schülern bei ihr hinterließen. Man erhält auch Einblick in ihr Verhältnis zu bedeutenden Zeitgenossen wie etwa dem Komponisten Igor Strawinsky oder dem Dichter Paul Valéry, mit denen sie oft verkehrte.
In ihren Reflexionen über Musik, prägende Komponisten wie Bach und das Künstlerdasein verliert Boulanger nie den Blick für das rein Menschliche: „Es ist sehr gut, Musiker zu sein, sehr gut, Genie zu haben, aber der innere Wert, der den Geist ausmacht, das Herz, die Empfindsamkeit, hängt davon ab, wer man ist.“ Der Schlüssel zur tieferen Erkenntnis liegt für sie in der Achtsamkeit. Das aus diesen Gedanken entstehende Porträt einer außergewöhnlichen Persönlichkeit wird abgerundet durch persönliche Erinnerungen von Schülern, etwa Bernstein, der sie wenige Wochen vor ihrem Tod noch einmal besuchen konnte. Corina Kolbe


