Werke von Vasks, Bach und Nordgren

Humanity

Simone Drescher (Cello), Sinfonietta Rīga, Ltg. Jānis Liepiņš

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: gwk records 157
erschienen in: das Orchester 6/2023 , Seite 71

Ein großes Wort fungiert als Motto: Humanity, Menschlichkeit. Im Begleittext der CD ist überdies die Rede von Hoffnung und Zuversicht, von Erschütterung und Schmerz, wir erfahren, dass „Freundschaft“ ein ebenso passender Album-Titel hätte sein können wie „Konflikte“. Raunt und menschelt es da nicht ein bisschen zu sehr? Von welchem großen Thema handelt, polemisch gefragt, die vorliegende Produktion eigentlich nicht? Über viele Booklet-Seiten erstreckt sich ein Interview mit der Solistin Simone Drescher, in dem wir manches über ihre persönliche Beziehung zu den Werken und „nebenbei“ das eine oder andere über die Werke selbst erfahren.
Zwei streicherbegleitete Cellokonzerte stehen einander gegenüber: das 1980 komponierte 1. Konzert des Finnen Pehr Henrik Nordgren sowie das 2. Konzert des lettischen Komponisten Pēteris Vasks. Tonale Gravitationszentren prägen die Idiome beider Komponisten, von nostalgisch-rückwärtsgewandter Funktionsharmonik kann freilich nicht die Rede sein, eher von neuen Wegen zur Tonalität. Nordgrens Musiksprache verwendet Einflüsse japanischer und nordischer Volksmusik, auch Schostakowitsch hat in ihr Spuren hinterlassen: Sein 1. Cellokonzert klingt kantig, herb, dramatisch, zwei kontrastierende „Prelude“-Sätze münden in eine getragene, am Ende friedvolle Hymne. Die Musik Vasks mutet weniger sperrig an, sie entfaltet allemal eine bezwingende Kraft, die das knapp vierzigminütige – Klātbūtne (Gegenwart) überschriebene – Cellokonzert weniger mittels struktureller Stringenz als vielmehr durch einen gleichsam natürlich fließenden Erzählstrom voranträgt.
Die Soloparts beider Werke stellen hohe Anforderungen, die Simone Drescher glänzend erfüllt: Intensive Tongebung, energische Doppelgriffe, virtuose Rasanz, betörendes Cantabile, Mut zu expressiven Steigerungen – all dies bringt die ehemalige Schülerin von Wolfgang Emanuel Schmidt und Troels Svane auf ihrem herrlich sonoren Grancino-Cello in beeindruckender Manier zu Gehör. Das ganze Spektrum ihres Könnens entfaltet Simone Drescher in den spektakulären Kadenzen des Vasks-Konzerts. Ihre musikalischen Partner sind die äußerst flexibel agierende Sinfonietta Rīga und der junge lettische Dirigent Jānis Liepiņš.
Neben den Hauptwerken sind zwei kurze Werke von Johann Sebastian Bach zu hören: die Aria aus der Orgelpastorale BWV 590 sowie das Choralvorspiel Erbarm’ dich mein, oh Herre Gott BWV 721 in Bearbeitungen für Cello und Streicher. Simone Drescher und die Rigaer finden auch hier den rechten Ton: schlank, mit sparsamem Vibrato und zugleich die Nachbarschaft der nordischen Expressionsmusiker im Subtext spürbar machend.
Ungeachtet ihrer Affinität zu manch „schwerem“ Begleitwort: eine gelungene Produktion!

Gerhard Anders

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