Jungheinrich, Hans-Klaus
“Hudba”
Annäherungen an die tschechische Musik
An irgendeiner Stelle seines Buchs spricht der Autor vom Rausch als Modus musikalischer Grunderfahrung. Dem, was er als musikalische Grunderfahrung verstehen mag, ist Jungheinrich längst entwachsen, der Rausch jedoch ist geblieben: Wie er selbst sich an seinem Gegenstand berauscht, so reißt er auch den Leser mit in diese bekannt-unbekannte böhmische Musikwelt, die der Verdacht könnte nahe liegen so gar nichts mit dumpfem Blasmusikgetöse und Egerländerei zu tun hat.
Die Vorlieben des Verfassers sind quantifizierbar: Bedrich Smetana sind rund 48 Seiten gewidmet. An zweiter Stelle folgt nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, Antonín Dvorák (dritter Platz mit ca. 37 Seiten), sondern Leos Janácek mit etwa 41 Seiten, und Platz vier nimmt, nun schon mit deutlichem Abstand, auf rund 18 Seiten Bohuslav Martinu ein. Alle anderen tschechischen (und zu einem kleinen Teil auch slowakischen) Komponisten rangieren unter ferner liefen oder kommen im Fall Jan Václav Vorisek erstaunlicherweise nicht einmal als Name vor.
Aber der Untertitel des Buchs impliziert ja bereits in dem Wort Annäherungen, dass Vollständigkeit nicht intendiert ist. Jungheinrich lässt sich musikverliebt gleichsam auf den Wellen der Moldau durch Böhmens Hain und Flur treiben und liest auf, was an Wertvollem er nur eben greifen kann. Und das ist nicht wenig für ein so kleines Land, wie es Tschechien nun einmal ist. Diesem Aspekt widmet der Autor einige kluge Gedanken, in denen er kleine Länder und ihre kompositorischen Auslagen miteinander vergleicht: Belgien, Dänemark, die Schweiz etc. Die musikalische Hochleistung der Tschechen ist aber nicht nur inter pares bewundernswert, sondern gerade auch im Abgleich mit größeren Nationen wie Polen, Frankreich, Spanien oder England.
Die tschechische Musik bettet der Autor eloquent und mit profundem musikalischen Wissen in die sie umgebende allgemeine Historizität, will sagen: Auch Musik entsteht nicht im luftleeren Raum, ohne geprägt zu sein von den sie umgebenden gesamtgesellschaftlichen Strukturen. Was besonders deutlich in dem Smetana-Kapitel Musik und Patriotismus: Smetanas Mein Vaterland zum Ausdruck kommt.
Jungheinrich ist wieder einmal es geht keine Nummer kleiner! ein grandioses Buch gelungen, ein Plädoyer für Tschechien als einer der bedeutendsten europäischen Musiklandschaften, bei dem des Rezensenten süffisanter Hinweis darauf, dass es sich bei den Herrnhutern um eine Brüdergemeine (und nicht: -gemeinde!) handelt und darauf, dass die tschechische Vokabel housle für Geige, Violine durchaus nicht nur dem Tschechischen eigen, sondern als gusla auch den Bulgaren, als gusle den Serben und Kroaten und als gusli sogar den Russen (hier als Zupfinstrument) bekannt ist, kaum anders denn als beckmesserische Pedanterie gebrandmarkt werden muss.
Friedemann Kluge